Strassenkinder in Kolumbien - Lebensschilderungen

JONATHÁN

Er ist vierzehn Jahre alt und sieht doch erst aus wie ein Acht- höchstens Zehnjähriger. Er ist klein und schmächtig, flink und stark. Dabei kann er keinen Augenblick lang ruhig sitzen bleiben, huscht ständig hin und her, und ist immer sofort zur Stelle, wo etwas los ist. Seine lachenden Augen sehen alles, nichts will er versäumen. Vor einigen Wochen tauchte er zum ersten Mal im Patio Don Bosco auf. Bereitwillig spricht er über seine Erfahrungen.

Er war gerade einmal neun Jahre alt, als sich seine Mutter auf und davon machte und ihn zusammen mit seinen drei Geschwistern zurück ließ. Seine ältere Schwester musste sich von einem auf den anderen Tag mit der Aufgabe abfinden, ihre Mutter zu ersetzen. Vom Vater, arbeitslos und dauernd betrunken, war nicht viel Unterstützung zu erwarten. Damals lebten sie in Robledo Áures, einem Viertel im Slumgürtel Medellíns. Den engen, kaum zwölf Quadratmeter großen Wohnraum teilten sie sich mit acht weiteren Familienangehörigen, darunter Onkeln und Tanten.

Jonathán interessierte sich schon immer für alles Wissen, das ihm die Schule und die Fernsehprogramme boten. Häufig besuchte er die öffentliche Bibliothek in seinem Wohnviertel, in dem er sieben Jahre lang zur Schule ging. Heute noch sagt er: "Mit anderen zusammen unterrichtet zu werden, das ist nichts für mich. Ich bin viel zu schnell für sie". Als seine Familie zunehmend verarmte, war er gezwungen, die Schule zu verlassen, um Geld zu verdienen. Aber die Hoffnung, eines Tages den ärmlichen Verhältnissen entfliehen zu können, verlor er nie. So verschlug es ihn nach Putumayo, dem am weitesten im Süden Kolumbiens an der Grenze zu Ecuador gelegenen Departement, wo eine Tante lebte und ihm Unterschlupf gewährte. Bald fand er eine Arbeit als raspachin, als Sammler von Kokablättern. Aus nächster Nähe erlebte er dort den blutigen Kampf der Drogenhändler und Guerilleros mit dem Militär und der Polizei mit, hörte Schießereien und Detonationen, sah Verletzte und Tote.

Als seine Tante in finanzielle Schwierigkeiten geriet, machte er sich auf den Weg und kehrte nach Medellín zurück. Dort hielt er sich besonders gerne im vornehmen Viertel El Poblado mit seinen schönen Häusern und Geschäften auf. Immer wieder begegnete ihm ein hübsches Mädchen, das er aus der Ferne beobachtete und für das er heimlich lange Gedichte verfasste, die er in ein altes Schulheft eintrug: "Wenn du mich liebtest und ich dich liebte, würde ich glauben, dies sei ein Traum, nicht Wirklichkeit. Aber da kein Traum endlos währt und du einen anderen liebst, verwandelt sich die schöne Illusion in einen Albtraum, wenn ich dich am Fenster vorbei gehen sehe mit deinem Lächeln..."

Seinen Glauben daran, künftig von der Straße wegzukommen, verlor Jonathan nie. So suchte er Kontakt zu einem Straßenkinderprogramm, und bemüht sich nun, dort aufgenommen zu werden. "Ich werde einmal Wissenschaftler", sagt er voller Überzeugung, und man nimmt ihm tatsächlich ab, dass er dieses Ziel eines Tages auch erreichen wird.

 



Letzte Aktualisierung dieser Seite: 27.09.2012 (s. admin)