Strassenkinder in Kolumbien - Gespräche / Interviews

Gallada El Naranjal
GESPRÄCH MIT EINEM UNBEKANNTEN JUNGEN

Der etwa zwölfjährige Junge, dessen Namen wir nicht kennen, ist heute erstmals im Patio Don Bosco erschienen, und er wird später dort auch nicht mehr auftauchen. Er hat sich auf einer Treppenstufe ausgestreckt und räkelt sich entspannt, halb wachend und halb schlafend, in der Mittagswärme.

Schließlich richtet er sich etwas auf, gähnt und schaut interessiert auf das Treiben der anderen. Er ist ein sympathischer, gut aussehender Junge. Bereitwillig lässt er sich auf das Gespräch ein. Seine Augen leuchten, wenn er von seinen Reisen erzählt.

FRAGE: Du bist so schön braungebrannt. Warst du weg in den Ferien?

JUNGE: Ja, in Cartagena.

FRAGE: Wie bist du denn dorthin gekommen?

JUNGE: Es ist nicht schwer zu erfahren, wo die Lastwagen vorbeikommen, die zur Küste fahren. Wenn sie an der Mautstelle Halt machen, kann man leicht hinten aufspringen.

FRAGE: Wie hast du erfahren, welche Strecke die Lastfahrer nehmen und wie man aufspringt, ohne dass es die Fahrer merken?

JUNGE: Wenn man klein ist, hört man den älteren Typen zu, wenn sie von ihren Abenteuern erzählen, wie sie nach Cartagena gefahren und dort ans Geld gekommen sind. Man hat Lust aufs Reisen, und dann hängt man sich einfach an die, die schon dort waren. Später schafft man das auch ohne Hilfe anderer.

FRAGE: Und die Fahrer sagen nichts, wenn ihr auf ihre Lastwagen aufspringt?

JUNGE: Was glaubst du wohl! Wenn die uns bemerken, dann schlagen sie zu und lassen uns natürlich nicht weiterfahren. Die haben Angst, dass wir sie beklauen.

FRAGE: Wenn ihr euch versteckt, wie haltet ihr es die ganze Fahrt über ohne Essen aus?

JUNGE: Wir springen vom Wagen herunter, kurz bevor er unterwegs stoppt. Die Fahrer halten an Restaurants an. Dort können wir betteln. Wir sagen, dass wir Hunger haben. Fast immer bekommen wir irgendetwas, vor allem von den Frauen, die dort kochen. (Während der Junge erzählt, reckt und streckt er sich und dabei wird unter dem Hemd eine ziemlich frische Narbe sichtbar.)

FRAGE: Was ist dir denn hier passiert?

JUNGE: Das war am Freitag letzter Woche. Da hat mich so ein Kerl von hinten erst angerempelt und dann zugestochen.

FRAGE: Zugestochen?

JUNGE: Ja.

FRAGE: Und wie?

JUNGE: Mit einem Taschenmesser.

FRAGE: Warum denn das?

JUNGE: Wegen einer Flasche Kleber. Er dachte, ich würde seinen Kleber klauen. Aber das war gar nicht so. Irgendwann werde ich ihn erwischen und es ihm heimzahlen.

FRAGE: Meinst du nicht, es wäre besser, diese Sache auf sich beruhen zu lassen?

JUNGE: Nein, er würde mich weiter bedrohen. Ich habe doch keine Angst vor dem. Aber diese Narbe ist noch gar nichts im Vergleich zu dieser anderen hier, die sie mir mit einer Flasche beigebracht haben, als ich einmal einen Streit hatte wegen irgendwelcher Missverständnisse. (Er macht den Bauch frei und fährt mit dem Finger die Konturen auf der Haut nach). Fast wäre ich dabei gestorben. Es wurde mir ganz schwarz vor Augen, aber der liebe Gott hat mich gerettet. Und hier, schau mal, hier habe ich noch eine Narbe, die hat mir ein Straßenhändler verpasst, als ich ihm ein paar Äpfel klauen wollte. Aber die paar Kratzer sind nicht der Rede wert.

FRAGE: Und die Narbe da auf deiner Stirn?

JUNGE: Als ich klein war, ist einmal die Schaukel gerissen, das ist alles. Auch die hier (er zeigt aufs Kinn) stammt aus meiner Kindheit: Da bin ich von einem Mangobaum heruntergefallen, als ein Ast gebrochen ist. Ich wollte Mangos im Garten eines Nachbarn klauen, ohne dass er es merken sollte. Aber der führte sich furchtbar auf und schrie, sie sollten mich packen.

FRAGE: Wo hast du gewohnt?

JUNGE: In Santa Bárbara.

FRAGE: Und warum bist du hierher gekommen?

JUNGE: Mein Vater hat meiner Mama das Leben schwer gemacht. Er ist ein ziemlicher Weiberheld . Wenn er betrunken nach Hause gekommen ist, hat er uns geschlagen, und er hat meine Mutter und die ganze Welt beschimpft. Etwas zum Essen hat er uns nicht gebracht. Was er verdiente, hat er versoffen.

FRAGE: Und wie bist du nach Medellín gekommen?

JUNGE: In Santa Bárbara fahren viele Lastwagen ab, die Früchte und Gemüse zum Markt Las Minoristas bringen, und da habe ich mich dran gehängt.

FRAGE: Als du hier ankamst, was ist da passiert?

JUNGE: In der Gegend des Marktes habe ich mich von einem zum anderen Tag durchgeschlagen und dann habe ich zum Glück Freunde gefunden.

FRAGE: Nimmst du Drogen?

JUNGE: Wenn du nicht vor Hunger sterben, die Nacht überleben und dich nicht von diesen Typen fertig machen lassen willst, die sich so stark vorkommen, dann lernst du das schnell.

FRAGE: Am Tag, als du hier ankamst, wie war das eigentlich?

JUNGE: Ein Scheißtag! Wenn du Hunger hast, dann schämst du dich zu betteln. Kein Mensch ist freundlich zu dir und man weiß auch nicht, was man tun kann und wohin man gehen soll. Aber nach ein paar Tagen trifft man Leute, mit denen man reden kann, und man begegnet ihnen dann immer wieder. Man ist mit ihnen zusammen, gewinnt Vertrauen, wird von ihnen eingeladen dahin oder dorthin zu gehen. Sie stellen dich ihren Freunden vor und beziehen dich in ihr Leben ein . So übernimmt man von ihnen dieselben Verhaltensweisen und lernt auch, Drogen zu nehmen .

 



Letzte Aktualisierung dieser Seite: 27.09.2012 (s. admin)