Zur Situation der Kinder und Jugendlichen in Frankreich
 
(Text: Hartwig Weber, August 2011)


In Frankreich absolvieren ungefähr 70 Prozent eines Schülerjahrgangs das Abitur. Fast alle nehmen dann ein Hochschulstudium auf. Wie in anderen europäischen Ländern spielt die soziale Herkunft eines französischen Jugendlichen für seine Zukunft eine große Rolle. Obgleich die Mobilität Jugendlicher in der letzten Zeit gewachsen ist, leben junge Franzosen lange Jahre bei ihren Eltern, verbringen aber mindesten die Hälfte der Zeit bei Freunden. Die Lebensform der "double résidence" praktizieren auch viele Studenten. Was sie an das Elternhaus bindet, sind die massiven Probleme der Jugendlichen, die auf dem Arbeitsmarkt auf sie zukommen.

Arbeitslosigkeit, Armut. In Frankreich soll es eine Million arme Kinder und Jugendliche geben (vgl. CERC, Conseil de l’Emploi, des Revenus et de la Cohésion sociale). Die betroffenen Familien - hauptsächlich Einelternfamilien und kinderreiche Familien - sind meist aus außereuropäischen Ländern zugewandert. Die allgemeine Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren liegt  bei über 22 Prozent, unter Jugendlichen aus Migrantenfamilien ist sie doppelt so hoch. Die Arbeitsplätze, die Jugendliche schließlich finden, sind meist ungesichert und kurzfristig. Gering qualifizierte Jugendliche, die es besonders schwer haben, werden durch den Contrat CIE (Contrat Jeunes en entreprise) gefördert (vgl. http://www.travail-emploi-sante.gouv.fr/espaces,770/travail,771/).

Jugendkriminalität. Jugendliche sind bei 20 Prozent bis 30 Prozent aller Straftaten und Gewaltdelikte beteiligt. Am häufigsten kommen bei ihnen Diebstahl und Sachbeschädigung, aber auch Drogenmissbrauch und Prostitution vor. Die Bandenkriminalität ist gewachsen. Daran sind vor allem Jugendliche der Banlieus (Vorstädte) aus niedrigem sozialen Milieu beteiligt. Sie richten ihre Akte von Gewalt gegen Wohnsiedlungen, Schulen und öffentliche Verkehrsmittel. Die zuständigen 150 Jugendgerichte sind von etwa 400 Jugendrichtern (juges des enfants) besetzt, die in der Regel Erziehungs- und Resozialisierungsmaßnahmen verordnen (vgl. www.justice.gouv.fr/actualites/paroles_de_justice/articles/assesseurstpe.htm).

Drogenkonsum. Die Strafen bei Drogenkonsum sind in Frankreich besonders hart. Für einen einzigen Joint kann es ein Jahr Gefängnis und eine Geldstrafe von fast 40 000 Euro geben. Trotzdem rauchen angeblich mehr als 20 Prozent der Achtzehnjährigen mehr als zehn Joints im Monat. Beim Drogenkonsum unter Jugendlichen liegt Frankreich an der Spitze in Europa. 22 Prozent der Jungen und sieben Prozent der Mädchen nehmen regelmäßig Alkohol zu sich. Nur beim Rauchen ist die Tendenz rückläufig (vgl. www.espad.org).

Migrantenkinder. Nach dem 2. Weltkrieg hat Frankreich Arbeitskräfte ("Gastarbeiter")  aus Südeuropa, Polen und Nordafrika ins Land geholt. Nach 1950 kamen viele Einwanderer infolge der Unabhängigkeitsbewegungen in den ehemaligen französischen Kolonien, zumal aus dem Maghreb und dem subsaharischen Afrika. Eine massive Einwanderung setzte während des Algerienkrieges (1954-62) ein. Die Algerier stellen immer noch die größte Einwanderergruppe. 

Infolge der Wirtschaftskrise der frühen 1970er Jahre wurden die Anwerbeprogramme gestoppt. Einwanderung erfolgte nun nur noch im Zuge der Familienzusammenführung und bei Asylbegehren, was naturgemäß zu rückläufigen Einwanderungszahlen führte. Ein spezieller Einwanderungsstatus wurde jedoch für hochqualifizierte Arbeitnehmer, Wissenschaftler und Künstler eingeführt, daneben ein Legalisierungsprogramm für illegal eingewanderte Ausländer aufgelegt (vgl. Länderprofil Frankreich, Migration und Bevölkerung: www.migration-info.de; Bericht des Obersten Rechnungshofes (Cour des Comptes) zur Integrationspolitik: www.ccomptes.fr/Cour-des-comptes/publications/rapports/immigration/immigration.pdf). 

Nach dem "jus soli (Bodenrecht)" bekommen in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern mit der Vollendung des 18. Lebensjahres automatisch die französische Staatsangehörigkeit. Im Ausland geborene und in Frankreich lebende Personen können die Staatsangehörigkeit bekommen, wenn sie mindestens fünf Jahre im Land gelebt haben, über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen und keine Sozialleistungen beziehen.

Die meisten Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind Kinder von Einwanderern der zweiten und dritten Generation. Obwohl sie französische Staatsbürger sind und die französische Sprache sprechen, leben sie oft von der französischen Gesellschaft isoliert in den Einwanderermilieues der Banlieues, wo sie von jeglicher Aufstiegsschance abgeschnitten sind. 

Die 2002 gegründete  Agence nationale de l’accueil des étrangers et des migrations (ANAEM) - Nationale Agentur für die Aufnahme von Ausländern und Migranten - vermittelt grundlegende Informationen über den französischen Staat und die Gesellschaft und bietet den ausländischen Bürgern kostenlose Integrationsleistungen wie gesundheitliche Untersuchung, Sprachtest und Sprachkurse sowie Beratung durch Sozialarbeiter zum Beispiel zum Berufseinstieg in Frankreich (vgl. Agence Nationale de l'accueil des étrangers et des migrations unter: www.anaem.social.fr/article.php3; vgl. auch Sophia Tiemann: Die Integration islamischer Migranten in Deutschland und Frankreich. Ein Situationsvergleich ausgewählter Bevölkerungsgruppen, Berlin 2004).

Trotz aller Maßnahmen sind Jugendliche mit Migrationshintergrund in Frankreich benachteiligt. Sie bleiben Bürger zweiter Klasse. Die Zahl der Schulabbrecher und Arbeitslosen ist unter ihnen besonders hoch. Sie haben nicht dieselben Zugangschancen zu Bildung und Ausbildung wie ihre besser situierten Altersgenossen. In den anonymen Hochhaussiedlungen (Cités) aus den 60er Jahren mit einem Ausländeranteil von oft 70 Prozent lebt ein Großteil von ihnen. Diese sozialen Brennpunkte sind Ausdruck gescheiterter Integrationspolitik. Mit 23 Prozent liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich höher als im europäischen Durchschnitt (18 Prozent). Von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind sogar 40 Prozent ohne Arbeit.

Infolge der beschriebenen Lage kommt es seit den 80er Jahren in den Banlieues der Großstädte Paris, Marseille, Lyon, Straßburg oder und Lille immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen und Straßenschlachten mit der Polizei. Die Revolten sind Folge der sozialen Segregation der französischen Gesellschaft. Der Graben verläuft zwischen Arm und Reich. In den Vorstädten wächst eine sich selbst überlassene, "verlorene" Generation heran. Die Jugendlichen haben keine Aussicht auf soziale Teilhabe und eine menschenwürdige Zukunft. Ihre gewaltsamen und teilweise blutigen Ausschreitungen sind Ausdruck der Wut und Enttäuschung von Staatsbürgern zweiter Klasse, denen niemand hilft, ihre Perspektivlosigkeit zu überwinden (vgl. www.insee.fr; Sophia Tiemann: Die Integration islamischer Migranten in Deutschland und Frankreich. Ein Situationsvergleich ausgewählter Bevölkerungsgruppen, Berlin 2004).

 

Links

- Kultur: www.kultur-frankreich.de;
- Website des Nationalen Statistikinstituts: www.insee.fr;
- Länderkunde: http://www.dija.de/frankreich/allgemeine-laenderkundliche-informationen-fr/
- Auswärtigen Amt: www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Frankreich_node.html;
- Französische Botschaft: www.botschaft-frankreich.de;
- Französisches Außenministerium: www.diplomatie.gouv.fr/de;
- Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Frankreich

   



Letzte Aktualisierung dieser Seite: 19.10.2012 (s. admin)