Problemlagen von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika
(nach Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (Hg.): Kinder und Jugendliche in Lateinamerika und der Karibik, Eschborn 2008)

Soziale Ungleichheit

Der steigende Wohlstand in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik kommt nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zugute. Für viele arme Haushalte stagniert das Haushaltseinkommen seit Jahren. Die Situation von Kindern und Jugendlichen ist von enormen sozialen Ungleichheiten geprägt, die durch die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der ethnischen Zugehörigkeit noch verstärkt werden.

Der Großteil der Kinder und Jugendlichen hat keinen Zugang zu qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten. Infolge der schlechten Schul- und Berufsausbildung haben viele junge Menschen aus armen Familien zudem wenig Chancen, eine qualifizierte Beschäftigung zu finden. Das führt dazu, dass ein Großteil der jungen Menschen entweder arbeitslos oder zu schlechten Konditionen im informellen Sektor beschäftigt ist.

Die geringen Beschäftigungsmöglichkeiten in Lateinamerika und der Karibik führen zudem zu einer hohen Auswanderung in Nachbarstaaten, in die USA und teilweise auch nach Europa. Kinder und Jugendliche sind davon in besonderem Maße sowohl als Auswanderer als auch als Zurückgebliebene betroffen. Durch die Arbeitsmigration geht häufig der Zusammenhalt innerhalb der Familie verloren, mit weitreichenden Folgen für die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen.

Die für eine Integration in die Gesellschaft notwendigen Werte und Normen können durch das Fehlen eines funktionierenden familiären Umfelds nur schwer vermittelt werden. Zudem haben die fehlende emotionale Geborgenheit, Vernachlässigung durch überforderte Mütter und das Fehlen männlicher Rollenvorbilder starken Einfluss auf gewalttätige Handlungen von jungen Menschen gegenüber ihren Altersgenossen. Die hohe Jugendgewalt stellt in der Region eine besonders große Herausforderung für Kinder und Jugendliche dar.


Bildung

Große Unterschiede im Zugang zu qualitativ hochwertiger Schulbildung In Lateinamerika und der Karibik konnte durch die Erhöhung sozialer und wirtschaftlicher Standards die Situation der Grund- und Sekundarbildung verbessert werden. Trotz der verbesserten Bildungssituation bestehen nach wie vor große regionale Unterschiede bezüglich Qualität und Einschulungsraten.

Der Schulbesuch ist in Lateinamerika und der Karibik eng mit dem Familieneinkommen verknüpft. Reiche Familien schicken ihre Kinder auf teure, qualitativ hochwertige Privatschulen, wohingegen arme Menschen oft nur den Besuch einer einfachen Grundschule finanzieren können. In Mexiko zum Beispiel besuchen die ärmsten 20 % der Bevölkerung nur 3,5 Jahre die Schule, während das reichste Fünftel 11,6 Jahre am Unterricht teilnimmt.

In ländlichen Regionen, vor allem im Andenhochland und Amazonasgebiet, sind die Möglichkeiten, am formalen Bildungssystem teilzunehmen, wegen fehlender Infrastruktur zudem oft sehr begrenzt. Darüber hinaus sind schlecht qualifizierte und unterbezahlte Lehrkräfte, fehlende oder veraltete Unterrichtsmaterialien und Curricula Ursachen für qualitativ schlechten Unterricht.

Durch die mangelhaften Schulbedingungen, die zudem keine Perspektive eröffnen, bleiben viele Kinder dem Unterricht fern. Des Weiteren müssen sie oft während der Schulzeit arbeiten, um das Familieneinkommen aufzustocken.


Jugendarbeitslosigkeit

Für junge Menschen in Lateinamerika und der Karibik hat sich die Arbeitssituation in den letzten 15 Jahren verschlechtert. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt durchschnittlich 15 % und liegt damit um das Dreifache über der Quote der Erwachsenen (5,6 %). Auch die Beschäftigungsmöglichkeiten sind von sozialen Ungleichheiten geprägt: Die Jugendarbeitslosigkeit ist unter den ärmsten 20 % der Gesamtbevölkerung dreimal so hoch wie unter den reichsten 20 %.

Die Jugendbeschäftigung hängt auch vom Bildungsniveau ab. Der Bildungsstand von armen, ländlichen und indigenen Jugendlichen liegt weit unter dem ihrer Altersgenossen, wodurch sie höherer Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind. Trotz der allgemeinen Nachfrage nach höher qualifizierten Fachkräften fehlen häufig entsprechende Ausbildungsangebote.

Junge Menschen, die eine Beschäftigung gefunden haben, arbeiten oft in Familienbetrieben, in kleinen Unternehmen mit einer geringen Produktivität oder sie gehen Tätigkeiten auf dem informellen Arbeitsmarkt nach. Für diese Jobs sind meist keine spezifischen Fachkenntnisse erforderlich, dementsprechend gering ist die Bezahlung.

Hohe Arbeitslosenquoten, niedriger Lebensstandard und Wirtschaftskrisen führten in vielen Staaten Lateinamerikas nicht nur zur Binnenmigration vom Land in die Stadt, sondern vermehrt auch zur Auswanderung in wirtschaftsstarke Länder innerhalb der Region sowie in die USA und teilweise auch nach Europa. Lateinamerika und die Karibik gelten als die Region mit der höchsten Auswandererquote weltweit: Über 25 Millionen Lateinamerikaner leben außerhalb ihrer Heimatländer. Während in den USA vor allem männliche Jugendliche und Erwachsene ihr berufliches Glück suchen, befinden sich in Europa überwiegend weibliche Immigrantinnen, die schlecht bezahlt und nicht selten illegal im Dienstleistungssektor beschäftigt sind.

Die Arbeitsmigration hat für Kinder und Jugendliche in Lateinamerika und der Karibik weitreichende Folgen für ihre Sozialisierung. Als Auswanderer sind sie mit einer neuen Umgebung konfrontiert und oft auf sich alleine gestellt. Der soziale Halt der Familie fehlt häufig, was zu Unsicherheiten sowie zum Verlust von Geborgenheit und Werten führt.

Ähnlich ist die Situation von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern auswandern. Da häufig Väter aufgrund fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten emigrieren, sind die Mütter alleine für die Erziehung der Kinder verantwortlich. Durch die zusätzliche Belastung sind sie jedoch häufig mit der Erziehung überfordert. Vor allem Jungen und jungen Männern fehlen zudem oft männliche Rollenvorbilder.


Gewalt

In der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung in Artikel 19 festgeschrieben. Obwohl alle lateinamerikanischen und karibischen Länder diese Konvention ratifiziert haben, beeinflusst die steigende Gewaltbereitschaft ihr soziales Leben in besonders hohem Maße.

Kinder und Jugendliche sind der Gewalt meist schutzlos ausgeliefert. Sie erfahren Gewalt im häuslichen Umkreis (Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft), als Opfer von Jugendbanden und im Rahmen von gewaltsamen Konflikten, wie zum Beispiel Bürgerkriegen.

Doch Kinder und Jugendliche sind nicht nur Opfer von Verbrechen und Gewalt, sie sind an vielen Gewalttaten auch aktiv als Täter beteiligt. In Lateinamerika und der Karibik ist die Jugendgewalt eine zentrale Bedrohung für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit. Weltweit werden durchschnittlich 11 von 100 000 Menschen gewaltsam getötet. In Lateinamerika und der Karibik ist die Homizidrate jedoch mehr als dreimal so hoch – 36 auf 100 000 Menschen; es ist die gewalttätigste Region der Welt. In Zentralamerika liegt die Mordrate sogar bei 46 - 69 Opfern auf 100 000 Einwohner.

Gewalttätige Übergriffe mit Todesfolge sind vor allem in Großstädten üblich. In Recife, Medellín, Ciudad de Guatemala, San Salvador, Cali und San Pedro Sula sind die Raten weit über 80 pro 100 000 Einwohner. Etwa 80 % der Verbrechen werden dabei von Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren begangen.

Der Großteil der Opfer und Täter sind junge Männer. Über die Hälfte aller Morde wird den Jugendbanden („maras“ oder „pandillas“) zugeschrieben, die in El Salvador, Honduras und Guatemala etwa 600 00 Mitglieder zählen. Die Bandenmitglieder verdienen ihren Lebensunterhalt hautsächlich durch Raub, Diebstahl, Drogen- und Waffenhandel, Entführungen und Erpressungen. Der Großteil der Bandenmitglieder ist zwischen 12 und 30 Jahre alt. Solidarität in der Gruppe, Zugehörigkeit zu einem familienähnlichen Netzwerk, Identität und Status sind für Jugendliche wichtige Gründe, sich einer Bande anzuschließen.

Studien zufolge sind überdurchschnittlich viele Bandenmitglieder Kinder alleinerziehender Mütter. Infolge ihrer eigenen prekären sozioökonomischen Situation können sie ihren Kindern oft weder Fürsorge noch Zugang zu Bildung bieten. Zerrüttete Familienverhältnisse und innerfamiliäre Gewalt sind oft Gründe, warum sich Kinder und Jugendliche einer Jugendbande anschließen.

Weitere  „Risikofaktoren“ können sein: schwache soziale Integration, Häufigkeit von Gewalttaten, Verfügbarkeit illegaler Drogen, fehlende Aufstiegschancen, geringe soziale Mobilität, geringe Verfolgung und Aufklärung von Straftaten, Schulabbruch, geringe Bezahlung von unqualifizierter und gering qualifizierter Arbeit sowie falsche Vorbilder oder „peer groups“, die bereits Mitglieder in Gangs und Banden sind. Jugendbanden entstehen insbesondere dort, wo die soziale Ordnung oder die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften bereits zusammengebrochen ist und alternative kulturelle Verhaltensweisen als Orientierungsmaßstäbe fehlen.

In vielen Ländern Zentralamerikas reagiert der Staat auf die zunehmende Gewalt vor allem mit repressiven Maßnahmen („mano dura“). Dabei wird alleine die Zugehörigkeit zu einer Bande unter Strafe gestellt. Diese Maßnahmen zeigen jedoch bisher wenig Erfolg, die Mordrate ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.

Ein weiterer Grund für die zunehmende Dynamisierung von Jugendgewalt in Zentralamerika ist die reißerische Berichterstattung in vielen Medien. Dort werden Jugendliche per se als kriminell dargestellt. Die Ursachen werden jedoch in den meisten Fällen nicht thematisiert.

Kinder und Jugendliche als Opfer leiden stark unter den körperlichen und seelischen Folgeschäden von Gewalt. Neben gesundheitlichen Folgeschäden müssen sie mit einer Vielzahl von psychologischen Schäden, wie zum Beispiel Alkohol- und Drogenmissbrauch, Depression und Angstzustände, Ess- und Schlafstörungen, gewalttätige und kriminelle Verhaltensweisen, geringes Selbstwertgefühl und psychosomatische Störungen umgehen. Dazu kommen Folgewirkungen, wie höheres Sterblichkeitsrisiko, geringere Lebenserwartung durch Krankheiten und Unfruchtbarkeit.

Verbrechen und Gewalttaten sind nicht nur Ursache für die hohen Todesraten und persönliches Leid der Menschen. Sie belasten auch in hohem Maße die öffentlichen Haushalte und beeinträchtigen somit das Wirtschaftswachstum. Die wirtschaftlichen und sozialen Kosten von Verbrechen und Gewalt sind hoch. Eine Studie der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IADB) beziffert den wirtschaftlichen Schaden mit 16,8 Mio. US $, was 14,2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Region entspricht. Soziale Kosten, wie zusätzliche Gesundheitskosten, zusätzliche Belastung der öffentlichen Verwaltung und Kosten für private Sicherheit machen weitere 4,9 % des BIP aus.

(Fundstelle: http://www.avedis-consult.de/fileadmin/avedis/Publications/AVEDIS-Latin_America.pdf)



Letzte Aktualisierung dieser Seite: 06.07.2015 (s. admin)