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Bedrohte Kindheiten

Lernen auf der Straße
 

Bildung für Straßenkinder


Fehlende Bildung, verfehlte Zukunft. In weiten Teilen der Welt, selbst in den reichen und hochentwickelten Ländern, vertieft sich seit etwa dreißig Jahren die Kluft zwischen den sozioökonomisch gut und den schlecht gestellten Bevölkerungsgruppen. Die wachsende Ungleichheit prägt das soziale Leben, die kulturelle Partizipation, die Bildungschancen und die Gesundheitsfürsorge. Von dieser Entwicklung ist die jüngste Generation am meisten betroffen. Es gibt immer mehr arme Kinder. Der ökonomische Mangel ihrer Eltern minimiert ihre kulturellen Ressourcen und beeinträchtigt ihre Zukunftsperspektiven.

Die Verbesserung der Lebenssituation und Chancen von Kindern und Jugendlichen in prekären Lagen erfordert zweierlei: 
- die Bekämpfung ihrer Armut 

- und die Sicherung ihres Rechts auf Bildung.
Bildung allein kann sie nicht retten, aber ohne Bildung werden sie sich aus Armut und Exklusion nicht dauerhaft befreien können.

Das Wort „Bildung" bezeichnet sowohl einen Prozess („sich bilden") als auch das Ziel dieses Prozesses („gebildet sein") und orientiert sich am „Bild" des Menschlichen und Menschenmöglichen. Bildung ist die Bedingung der Möglichkeit, sein Menschsein zu entfalten und das Leben zu reflektieren und zu gestalten. Dies betrifft jeden Einzelnen im Blick auf sich selbst, auf andere und auf die Welt. Der Prozess der Bildung ist von lebenslanger Dauer. Im Leben von Straßenkindern ist er durch ungünstige äußere Faktoren von vorneherein so stark beeinträchtigt, dass sich ihre kulturellen und geistigen Fähigkeiten nicht entfalten können und ihre personalen und sozialen Kompetenzen verkümmern.

Was für Straßenkinder gilt, trifft in je spezifischer Ausprägung auch auf andere Kinder und Jugendliche in prekären Lebenssituationen zu – auf Flüchtlingskinder, Migrantenkinder, Kinderarbeiter, Kindersoldaten, sexuell missbrauchte Kinder, Kinderprostituierte, zum Teil auch auf Kinder ethnischer Minderheiten. Sie sind oft Bedingungen ausgesetzt, in denen ihnen niemand hilft, die Welt zu begreifen und sich darin zu orientieren. Fehlende Bildungschancen sind der erste Schritt in eine verfehlte Zukunft.


Menschenrecht auf Bildung. Die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 unterstreicht in Artikel 28 das Recht aller Kinder auf Bildung. Der Möglichkeit, unentgeltlich eine Grundschule zu besuchen, steht jedoch in vielen Teilen der Welt die Armut von Familien entgegen, die auf die Arbeitskraft ihrer Kinder, insbesondere der Mädchen, angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt gemeinsam bestreiten zu können. Arbeit statt Schule lautet die Devise für 50 Millionen Kinder in Indien.

Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2000 in ihrer „Milleniumserklärung" die Forderung der Kinderrechtskonvention nach Bildung aufgegriffen und in dem Beschluss präzisiert, dass bis zum Jahr 2015 allen Kindern der Welt, Jungen wie Mädchen, nicht nur eine Primarschulbildung, sondern auch ein gleichberechtigter Zugang zu allen Bildungsebenen gewährleistet werden soll. Jedem Kind, ganz gleich, wo und in welcher gesellschaftlichen Situation es lebt, gilt dieses Recht, weil es den Schlüssel bildet für die Zukunft des Einzelnen, der Gesellschaft und der Menschheit.

Defizite. Bei der praktischen Umsetzung des deklarierten Rechts auf Bildung für alle liegt heute noch vieles im Argen. Weltweit besuchen erst 76 Prozent der schulpflichtigen Jungen, 72 Prozent der Mädchen eine Grundschule. In Afrika südlich der Sahara sind es nur 60 Prozent der Jungen und 57 Prozent der Mädchen. In den armen Ländern fehlt es noch weithin an Schulen und an Zugangsmöglichkeiten zu ihnen. Der angebotene Unterricht hat meist mit der Lebenswirklichkeit der Kinder nichts zu tun. Es gibt nicht genügend Lehrer, und die vorhandenen sind oft schlecht ausgebildet und noch schlechter bezahlt. Die Klassenräume sind überfüllt, und es herrscht Mangel an Materialien und Medien. In den ärmsten Ländern – zum Beispiel in Schwarzafrika und Südasien – gibt es die meisten Schulabbrecher. In Indien erreichen höchstens 60 Prozent der Erstklässler die 5. Klasse, und von ihnen besuchen nur 45 Prozent der Jungen und lediglich 36 Prozent der Mädchen eine weiterführende Schule.

Der Gedanke, dass Bildungsangebote ohne Weiteres sozialen Ausgleich zu schaffen vermögen, ist keineswegs unumstritten. Das zeigt sich zum Beispiel in Deutschland. Hier wie in anderen Gesellschaften korrelieren der soziale Status der Eltern und die formale Bildung ihrer Kinder positiv miteinander. Niedrige Bildungsabschlüsse oder das gänzliche Fehlen von Schulbildung sind vor allem in den unteren Schichten der Bevölkerung anzutreffen. In Deutschland bestimmt die Herkunft eines Kindes den Bildungserfolg besonders stark. Trotz gleicher kognitiver Fähigkeiten und vergleichbarer Kompetenzen in Lesen und Mathematik bekommen zehnjährige Kinder von Eltern mit höherer Bildung viel leichter eine Empfehlung fürs Gymnasium als Kinder ungebildeter Eltern. Empirische Untersuchungen zeigen, dass nur ein Prozent der Kinder zwischen 6 und 11 Jahren aus der Unterschicht, aber 22 Prozent aus der Oberschicht  ein Gymnasium besuchen. Gleichzeitig findet man in Förderschulen 13 Prozent Unterschichtkinder, aber nur ein Prozent der Kinder entstammt den oberen Schichten (vgl. Klaus Hurrlemann und Sabine Andresen: Kinder in Deutschland 2010. Die 2. World Vision Kinderstudie, Frankfurt am Main 2010, S. 26). Das deutsche Bildungswesen scheint also eher Ungleichheit zu reproduzieren, als sie zu beseitigen, zumal wenn durch die Notengebung das „Versagen" eines Kindes als individuelle Unfähigkeit gebrandmarkt wird.

Wohlbefinden, Selbstwirksamkeit, Verwirklichungschancen. Angesichts dieser Problemlage ist die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten einer effektiven und nachhaltigen Bildung für Straßenkinder und andere gesellschaftlich randständige Minderjährige von besonderer Dringlichkeit. Welches sind die Voraussetzungen von adäquaten Bildungsangeboten für sie? Was steht ihnen im Wege? Woraufhin muss Bildung zielen?

Im Hinblick auf die Entwicklung einer Didaktik der Straßenkinderpädagogik wird hier folgender Dreischritt vorgeschlagen:

1. Ausgangspunkt soll die Frage nach dem Wohlbefinden und den Stärken der betreffenden Kinder und Jugendlichen sein. Wodurch ist ihre Lebensqualität beeinträchtigt? Wie kann an ihren Erfahrungen und oft verschütteten Stärken nachhaltig angeknüpft werden?

2. Auf dieser Grundlage sollen Bedingungen erörtert werden, die zur Stärkung der Selbstwirksamkeit der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen. Denn ein positives Selbstkonzept ist die Voraussetzung dafür, seine Lebenschancen optimal zu nutzen. Und

3. geht es um die Entfaltung einer Bildung entlang grundlegender Fähigkeiten und Verwirklichungschancen ("capabilities"), die benannt, aufgegriffen und gefördert werden müssen.


Die folgende Erörterung nimmt Aspekte der neueren Kindheitsforschung und Anstöße von Amartya Sen und Martha Nussbaum auf:

(> Didaktik und kindliches Wohlbefinden)

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 01.11.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |