Amerika | Afrika | Asien | Europa | Australien | Bedrohte Kindheiten | Publikationen | Projekte | Medien

Suche:   


Amerika

Strassenkinder in Kolumbien - Gespräche / Interviews


GESPRÄCH MIT JORGE

Jorge, etwa 10 Jahre alt, stammt aus den Cueva , einer der düstersten Gegend Medellíns, wenige Straßen vom Patio Don Bosco und der Plaza La Manga entfernt. Dort hausen die Ärmsten der Armen. Kein Fremder hat Zugang, und die Polizei lässt sich normalerweise dort nicht blicken. Nun aber hat kürzlich die Stadtverwaltung brutal zugegriffen. Mit Gewalt wurden die Menschen auf Lastwagen verladen und in die Außenbezirke der Stadt geschafft.

Nach einiger Zeit kehrten die Vertriebenen aber wieder zurück. Die Eingänge zu den Cuevas sind seither versperrt. Nun lungern sie auf den Grünstreifen der Autoschnellstraße am Rio Medellín und in den Parks im Zentrum herum. Dort ist auch Jorges neues Zuhause, das er mit vielen anderen Kindern und Jugendlichen teilt. Seine kleine Gestalt steckt in viel zu langen, schmutzigen Hosen. Darüber trägt er ein weites Hemd, unter dem seine linke Hand verschwindet, mit der er auf Brusthöhe die Kleberflasche hält, als wolle er sie verbergen, und doch schnüffelt er dauernd daran. Victor ist blass, die Augenlider fallen ihm wie unter der Last großer Müdigkeit fast zu. Er redet wie in Trance, und seine Bewegungen sind verlangsamt.

FRAGE: Hallo! Wo gehst du denn hin?

JORGE: Mittagessen holen.

FRAGE: Aber es ist doch schon vier Uhr nachmittags?

JORGE: Dort, wo ich das Essen hole, spielt das keine Rolle. Es ist eigentlich auch nicht für mich, sondern für einen Bekannten. Der gibt mir dann etwas davon ab.

FRAGE: Und warum holt er es sich nicht selbst?

JORGE: Weil er sich hier nicht mehr blicken lassen kann. Die haben hier eine Rechnung mit ihm offen.

FRAGE: Wie denn das?

JORGE: Na ja, er hat einen anderen Typen überfallen und ihm etwas weggenommen. So ist es zum Streit gekommen und der andere ist dabei verletzt worden. So etwas regelt sich nicht von selbst. Wenn man nicht will, dass sie einen umlegen, muss man halt verschwinden. Sieh mal, mich haben sie auch einmal erwischt (er zieht sich das Hemd über die Schultern, und eine tiefe Narbe wird sichtbar).

FRAGE: Wie kam es denn dazu?

JORGE: Das passierte, als ich ein paar schöne Geldscheine zusammengebracht hatte. Das Dumme war nur, dass ich damals noch ziemlich viel Schiss hatte . Da packten mich so ein paar Typen, die eigentlich meine Freunde waren und vermöbelten mich. Wir haben uns gegenseitig ordentlich zugerichtet. Aber sie waren in der Überzahl und so machten sie mich fertig. Aber ich habe es ihnen nicht leicht gemacht und auch ordentlich ausgeteilt. Dann musste ich mich eine Zeit lang verdrücken, um nicht wieder zusammengeschlagen zu werden.

FRAGE: Und dieser blaue Fleck da am Knie, was ist damit?

JORGE: Hast du nicht gehört, was diese Tage in den Cuevas passiert ist? Als die Polizei anrückte und uns festnehmen wollte, sind wir losgerannt, um nicht Bekanntschaft mit ihren Schlagstöcken zu machen. Ich lief so schnell ich konnte, aber weil ich an dem Tag von den Drogen total zugedröhnt war, stolperte ich, fiel hin und schlug mir das Knie auf. Aber das ist noch gar nichts! Schau mal, hier, das ist viel schlimmer. (Er zeigt auf eine tiefe Narbe am Schienenbein.) Die Narbe stammt davon, als ich eines Tages ein T-Shirt gestohlen habe, das die dort verkaufen (er zeigt auf die Händler auf der anderen Straßenseite) und damit abgehauen bin. Dabei hat mich ein Motorrad böse erwischt.

FRAGE: Und der Verkäufer des Hemdes, was tat der?

JORGE: Keine Ahnung. Die Leute standen im Kreis um mich herum, als ich so auf der Straße lag und brachten mich dann zur Unfallambulanz . Hinterher habe ich lange gehinkt. Aber Gott sei Dank ist es heute wieder in Ordnung.

FRAGE: Und diese Narben da an deinem Arm und Hals?

JORGE: Die stammen aus der Zeit, als ich noch ein kleines Kind war. Meine Mutter machte empanadas auf der Straße in dem Viertel, wo wir lebten, dort oben in den Comunas (er zeigt mit einer Handbewegung in Richtung Nordosten der Stadt). Meine Mama musste Geld beschaffen, weil der Typ, mit dem sie zusammenlebte, nichts taugte . Ich habe von ganz klein auf Sachen in den öffentlichen Bussen verkauft, um meiner Mutter zu helfen. Aber dabei bin ich auf die schiefe Bahn geraten . Ich habe angefangen, Drogen zu nehmen und bin nach Hause gekommen mit gar nichts mehr in der Tasche. Meine Mutter hat mich dann geschlagen und gesagt, dass ich mich mit leeren Händen nicht mehr blicken lassen bräuchte. Da musste ich die Nacht auf der Straße verbringen. Ich habe bald Freunde gefunden und gelernt, wie man dort überlebt. Man gewöhnt sich ja an alles.

FRAGE: Seit dem Tag bist du nicht mehr nach Hause zurückgekehrt?

JORGE: Doch. Wenn es mir gut geht und ich etwas Geld habe, schaue ich mal vorbei.

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 27.09.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |