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Afrika

Beziehungen, Kommunikation
(Markus Wiencke)
 
Hier wird die soziale Organisation der Straßenkinder Mwanzas in Bezug
auf ihre Beziehungen untereinander sowie auf die Beziehungen zu „Nicht-
Straßenkindern" erläutert. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, auf den
Missbrauch untereinander einzugehen, da hier die Machtverhältnisse mit
ihren Hierarchien deutlich werden.
 
Beziehungen untereinander
Die Beziehungen zwischen Straßenkindern müssen in mehrere Kategorien
unterteilt werden, und zwar in die Gruppenbildung, in die Beziehungen
zwischen Jungen und Mädchen, die Beziehungen der Jungen untereinander
sowie die Beziehungen unter den Mädchen.
 
Es ist schwierig, verlässliche Zahlenangaben zur Anzahl der Straßenkinder
und zu dem Geschlechterverhältnis zu bekommen. Die Stadt Mwanza hat
eine große Grundfläche, und nach meinen eigenen Beobachtungen und den
Aussagen meiner Interviewpartnerinnen und -partner gibt es mehr männliche
als weibliche Straßenkinder.
 
Wiederholt wurde in den Interviews geäußert, dass die Straßenkinder eine
Familie seien. Es hängt von der Definition ab, inwieweit ich dem zustimmen
kann. Eine Familie grenzt sich gegenüber anderen Familien ab – in
dieser Hinsicht bilden die Straßenkinder eine Familie im Hinblick auf die
„etablierte" Gesellschaft. Allerdings ist der Zusammenhalt lose, nur vereinzelt
werden andere Familienmitglieder mitversorgt, es gibt viele Kämpfe
untereinander und eine starke Hierarchie wie in einer patriarchalischen
Familienstruktur.
 
Außerdem schließen sich die Straßenkinder in der Regel zu Gruppen zusammen,
die zusammenleben, sich gegeneinander abgrenzen
und bekämpfen.
 
Von beiden Seiten wurden große Vorbehalte gegen das andere Geschlecht geäußert.
Viele Jungen meiden aus Angst vor HIV einen intimeren Kontakt
mit Mädchen.
Und umgekehrt sagen Mädchen, dass sie von Jungen mit
Infektionskrankheiten
angesteckt würden. Deswegen sind Liebesbeziehungen zwischen gleichaltrigen
Jungen und Mädchen selten. Ältere Jungen haben manchmal Beziehungen
mit jüngeren Mädchen, aber häufiger sind Beziehungen zwischen älteren Mädchen
und jüngeren Jungen.
 
Ich denke, die Gründe für diese Beziehungsstruktur hängen zusammen mit der Angst
vor Geschlechtskrankheiten und der hierarchischen Struktur.
Denn die älteren Jungen
dominieren sowohl die jüngeren Jungen als auch
die Mädchen generell.
Es kommt immer wieder vor, dass sie Mädchen
schlagen, ausrauben und vergewaltigen.
Das schließt allerdings nicht aus, dass Jungen und Mädchen an demselben Ort schlafen,
zusammen kochen und sich gelegentlich helfen. Nur tieferen
gegenseitigen Respekt
und Freundschaft beinhaltet es nicht. Die jüngeren
werden oft von den älteren Jungen
ausgeraubt und geschlagen. Und zwischen
den älteren gibt es ebenfalls Kämpfe.
Die Straßenkinder sind also
keinesfalls eine homogene Gemeinschaft. Im Gegenteil,
sie zerfallen in
konkurrierende Gruppen, kennen starke Hierarchien und Missbrauch
untereinander.

Beziehungen zu Mitgliedern der „etablierten" Gesellschaft
Es gibt Beziehungen von Straßenkindern zu Mitgliedern der „etablierten"
Gesellschaft. Die freundschaftlichen Beziehungen, die Straßenkinder zu Erwachsenen
haben, sind oft zweckgebunden, d.h. sie hängen häufig mit dem Lebensunterhalt
zusammen.
Es sind in der Regel Personen, von denen sie materiell unterstützt werden.
 
Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen
Freundschaftliche Beziehungen zu Kindern aus der Gesellschaft sind seltener
als zu Erwachsenen. Ich denke, es liegt zum einen daran, dass Kinder
weniger materielle Unterstützung geben können, zum anderen an ihrer
Angst vor den Straßenkindern. Hier geht also die Motivation zur zweckgebundenen
Freundschaft mehr von den Kindern aus der Gesellschaft aus, während sie
bei den Beziehungen zu den Erwachsenen eher von den Straßenkindern kommen dürfte.
 
Die Straßenkinder, die zur Schule gehen können, haben es leichter, dort gleichaltrige
Freunde zu finden. Doch es ist sicherlich schwierig für Kinder aus der Gesellschaft,
das andersartige Leben der Straßenkinder zu verstehen.
 
Missbrauch untereinander
Ich habe persönlich mehrere Male selbst beobachten können, wie Straßenjungen
durch andere verletzt worden sind. Einmal habe ich nachts einen
etwa 18-jährigen Jugendlichen getroffen, dem ein anderer Jugendlicher mit
einem Messer in die Brust gestochen hatte. Ein anderes Mal einen etwa
14-
jährigen Jungen, dem ein Stein ins Auge geworfen worden war. Kämpfe zwischen
Straßenjungen, insbesondere älteren, kommen immer wieder vor.
 
Mir wurde erzählt, dass drei Monate vor meiner Ankunft ein Straßenjugendlicher
von einem anderen im Kampf erschlagen worden sei. Oft wird jüngeren
Straßenkindern von älteren gewaltsam ihr Geld weggenommen oder sie werden
grundlos verprügelt. Ältere Straßenjungen vergreifen sich oft an Mädchen.
 
(vgl. Markus Wiencke: Strassenkinder in Tansania, Weissensee Verlag, Berlin 2009)

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 22.11.2010 (Prof. Dr. H. Weber)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |