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Bedrohte Kindheiten

Kompetenz – Eine Begriffsdefinition
(Maren Behnert, Dezember 2011)

Von Bedürfnissen zu Kompetenzen

Aktuelle Kompetenzdebatte
Kompetenzbergriff für die Straßenkinderpädagogik
Kompetenzbegriff nach Weinert
Kompetenzen und „Straßenkinder"
Die Rolle des Kompetenzerwerbs für die Straßenpädagogik
Links und Literatur
 

Kompetenzen
Spricht man von Kompetenz, synonym auch von Fertigkeiten, Fähigkeiten, Kenntnissen oder Befähigung (vgl. Hauenstein (2008), S. 25 und 26), kann nicht von einer homogenen und für alle gleich gültigen Begriffsbestimmung ausgegangen werden, vielmehr bestehen unzählige Kompetenzbereiche (vgl. Kanzleiter (2005), S. 43). Kompetenz ist zu einem unpräzisen Modebegriff geworden, der fach- und milieuspezifisch auf viele Lebens- und Lernbereiche ausdehnbar ist (vgl. Deinet/Icking in Deinet (2005), S. 65). Wer kompetent ist, gilt als vertrauenswürdig, Qualität und Qualifikation können vorausgesetzt werden. Kompetenz ist aber viel mehr als nur qualifiziertes Wissen, nämlich auch Fähigkeit, Verstehen, Können, Erfahrung, Motivation und vor allem Handeln (vgl. Weinert 2002). Kompetenz ist die Voraussetzung zur Anwendbarkeit von Kenntnissen, sie ist eine wesentliche Ressource zur Lebensbewältigung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ist bestimmt von Handlungsorientierung und -befähigung.

Kompetenz leitet sich ab von dem lateinischen Wort competere und bedeutet soviel wie zu etwas fähig sein, f. etw. ausreichen, zusammenfallen, -treffen, gemeinsam oder zugleich erstreben, zu erreichen suchen, zutreffen, entsprechen, zustehen, zukommen, wetteifern, kämpfen (vgl. PONS (2011) unter
http://en.pons.eu/latin-german/competere). Klieme nennt unterschiedliche Bedeutungen von Kompetenz und ihre englische Entsprechung wie folgt:
Fertigkeiten = skills; (Schul-) Leistung = achievement; Fähigkeiten = allg. Dispositionen = aptitudes; Teilfähigkeiten = abilities (
http://www.kibb.de/cps/rde/xbcr/kibb/Praesentation_Klieme.pdf)

Auf der offiziellen Internetseite der OECD heißt es: „Eine Kompetenz ist mehr als nur Wissen und kognitive Fähigkeiten. Es geht um die Fähigkeit der Bewältigung komplexer Anforderungen, indem in einem bestimmten Kontext psychosoziale Ressourcen (einschließlich kognitive Fähigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen) herangezogen und eingesetzt werden" (vgl.
www.oecd.org, zugegriffen am 10. September 2011)
Demnach ist Kompetenz etwas, das den Menschen zum Handeln befähigt (vgl. u.a. Hauenstein/Hemmerle (2008), S. 52). Er kann sich diese Befähigung aneignen und er kann sie besitzen. Er passt sich in seinem Kompetenzverhalten der jeweiligen Situation, in der er agiert, an (vgl. hierzu Kanzleiter (2005), S. 43ff). Je nach notwendiger Strategie der zu lösenden Aufgabe erweitert er sein kompetentes Handeln. Die Bedeutungen des lateinischen Worts comperere zu erreichen suchen, wetteifern, kämpfen verweisen auf den
Prozesscharakter des Kompetenzerwerbs, der immer wieder aufs Neue ein Leben lang geschieht, je nach Lebenslage, in der es sich zu behaupten gilt mit angepasstem Fokus (vgl. Bonsen/Hey (2002), S. 6).

Von Bedürfnissen zu Kompetenzen
Auf der Straße geht es in erster Linie ums Überleben und somit um das Stillen der Grundbedürfnisse. Der Psychologe Abraham Maslow entwickelte 1943 die Bedürfnispyramide, die er in A Theory of Human Motivation veröffentlichte. Auf fünf hierarchischen Stufen ordnet er menschliche Bedürfnisse. Die Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen und Trinken) stehen auf der untersten Stufe, Sicherheitsbedürfnisse (materielle und berufliche Sicherheit) folgen sozialen Bedürfnissen (Liebe, Freundschaft, Gruppenzugehörigkeit). Die ersten drei Stufen werden auch Defizitbedürfnisse genannt, weil sie, können sie nicht gestillt werden, das Wohlbefinden des Menschen massiv einschränken, Leben gar unmöglich machen. Die letzten beiden Stufen, Ich-Bedürfnisse (Anerkennung/Geltung) und Selbstverwirklichung, gehen über die Defizitbedürfnisse hinaus, sind Wachstumsbedürfnisse und in erster Linie für ein gesundes Leben nicht unbedingt erforderlich.

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit dem Lebensmittelpunkt Straße erleben einen täglichen Kampf bei der Befriedigung der Grund-, aber auch der Sicherheitsbedürfnisse. Bereits die zweite Stufe Maslows ist massiv eingeschränkt, eine sichere Unterkunft selten langfristig verfügbar. Dies führt zu enormem Stress bei den jungen Menschen. Eine Gruppenzugehörigkeit kann festgestellt werden, sei es in sogenannten Straßenfamilien oder über die Abgrenzung von anderen wie beispielsweise bei den Punks in Deutschland (abgegrenzt von Faschos oder „Spießern" u.a.). Bezüglich der obersten zwei Stufen werden besonders im Bereich von Anerkennung und Geltung bei den jungen Menschen Bedürfnisse geäußert. Teilweise liegt die Motivation auf die Straße zu gehen in der Suche nach Anerkennung und Selbstverwirklichung. Die Jugendlichen wollen explizit zeigen, was sie können, über ihre Handlungen selbst entscheiden. Sie streben nach einer autonomen Lebensführung und eignen sich dadurch intrinsisch motiviert notwendige Kompetenzen an.

Für diese empirische Arbeit spielt Motivation daher eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grund soll kurz auf die Selbstbestimmungstheorie Edward L. Deci und Richard M. Ryans (1985) eingegangen werden. Deci und Ryan gehen im Prinzip von Maslows Bedürfnistheorie aus und erweitern diese um sogenannte psychologische Grundbedürfnisse nach Selbstbestimmung und Kompetenzerleben, die zu Persönlichkeitsentwicklung und psychischem Wohlbefinden beitragen. Aber genau dies wird jungen Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße vielfach verwehrt. Das negative Bild des Lern- und Wohnorts Straße, die gesellschaftliche Missachtung sowie der Umstand, dass die besonderen Fähigkeiten als solche nicht anerkannt werden, führen zu Frustration und Unwohlsein. „Menschen gelten dann als motiviert, wenn sie etwas erreichen wollen – wenn sie mit dem Verhalten einen bestimmten Zweck verfolgen" (Deci/Ryan (1993), S. 224). Das motivierte Handeln geht demnach auf Intentionen zurück, ist somit intrinsisch. Deci und Ryan unterscheiden davon extrinsische Motivation. „Extrinsische Motivation wird dagegen in Verhaltensweisen sichtbar, die mit instrumenteller Absicht durchgeführt werden" (Deci/Ryan (1993), S. 225). Die Selbstbestimmungstheorie fordert drei psychologische Bedürfnisse: Kompetenz oder Wirksamkeit, Autonomie oder Selbstbestimmung und soziale Eingebundenheit (vgl. Deci/Ryan (1993), S. 224; Ebd. (2000), S. 71). „Gerade Kinder und Jugendliche der Straße haben (…) einen hohen Erfolgswert und ein großes Bedürfnis selbst mitbestimmen zu wollen" (Wolfer in Street Corner (2000), S. 30).

Die Frage nach Kompetenzen junger Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straé spricht somit ihr Bedürfnis nach Kompetenzerleben (aber auch Anerkennung) unmittelbar an. Kompetenzerleben kann in diesem Fall bei den jungen Menschen als Bedürfnis gesehen werden. Mit der Untersuchung von Kompetenzen und der Entwicklung einer kompetenzorientierten Straßenkinderpädagogik wird ein wichtiger Schritt in Richtung Wohlbefinden und Selbstverwirklichung unternommen. „Persönlichkeitsentwicklung erfolgt vielfach dadurch, dass die Person in ihrem Wissen und Können, also insgesamt in ihren Kompetenzen, entwickelt wird" (Rosenstiel in Barz (2001), S. 37).


Aktuelle Kompetenzdebatte

Diskussionen um Kompetenzen finden vornehmlich innerhalb der Bildungsdebatten statt, spätestens seit dem PISA-Schock in Deutschland sehr intensiv (vgl. Bauer/Logemann (2009), S. 9 und 12ff; Janke (2006), S. 7). Die kritisch-konstruktive Didaktik Klafkis führte den Kompetenzbegriff in die Pädagogik ein. Seither wurde er immer wieder kontrovers diskutiert, erweitert und sein Stellenwert in Bildung und Erziehungswissenschaften erläutert. Mit Heinrich Roth hielt die Kompetenzdebatte erneut Einzug in Erziehungswissenschaft und Schulentwicklung und ist seitdem nicht abgebrochen (vgl. Deinet/Icking in Deinet (2005), S. 64 sowie Voß in Deinet/Sturzenhecker (1998), S. 210). Dennoch stehen bei der Entwicklung von Bildungsstandards und Curricula fachliche Inhalte für die Leistungserbringung im Fordergrund. Schlüsselqualifikationen sollen in Schule und Ausbildung erlernt werden und messbar sein (vgl. Hauenstein (2008), S. 10). „In bildungspolitischen Diskussionen werden pädagogische Konzepte, Modelle und Positionen oft mit Hilfe eines sehr globalen Maßstabes bewertet und dementsprechend pauschal etikettiert" (vgl. Weinert (2002), S. 17). Leistungsmessung und die daraus resultierende Qualifikation geben dabei ein sehr einseitiges Bild über den Kompetenzerwerb des Schülers.

Im Unterschied zu Kompetenz ist Qualifikation der Nachweis von der Fähigkeit eines Menschen in seiner Profession, auf dem Gebiet, wo er oder sie beruflich, geistig, künstlerisch, sportlich etc. tätig ist. Oft werden Kompetenz und Qualifikation begrifflich gleichgesetzt (vgl. hierzu das Infoblatt des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung München, 2006 unter http://www.kompas.bayern.de/userfiles/infokompetenz.pdf; aber auch Hauenstein (2008), S. 32). Eine Qualifikation kann durch Zertifikate, Prüfungen und Tests belegt werden. Somit „befähigen" (im Sinne von genehmigen) diese Dokumente einen Menschen, eine bestimmte Tätigkeit ausüben zu dürfen. Ein Abiturient gilt prinzipiell als „befähigt", ein Hochschulstudium aufzunehmen. Ob er über die nötigen Kompetenzen zur erfolgreichen Durchführung seines Studiums verfügt, ist damit jedoch nicht garantiert. Bei Weinert heißt es: „Voneinander abzugrenzen sind die häufig synonym verwendeten Begriffe „Kompetenz" und „Qualifikation": Während „Kompetenz" individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten beschreibt, drückt der Begriff „Qualifikation" eine konkrete, personenunabhängige Befähigung bzw. Eignung aus, eine Tätigkeit regelmäßig auf einem bestimmten Niveau ausführen zu können". (vgl. http://www.kompas.bayern.de/userfiles/infokompetenz.pdf, zugegriffen am 10. September 2011)

Kompetenzen beziehen sich auf Anwendung und Ausführung von Lösungsstrategien bestimmter Inhalte. Ihre Definition wird bestimmt von dem Handlungsrahmen, dem die Kompetenz zugeordnet wird. Bei ihrer Definition spielt auch der Lernbegriff eine Rolle. Dieser hat sich in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten dahingehend verändert, dass Lernen explizit auch in außerschulische Räume verlagert wird (vgl. Baselt (2005), S. 33 und 37). Ganzheitliches und lebenslanges Lernen prägten somit maßgeblich neue Unterrichtsformen wie den Offenen Unterricht, der den selbständigen und lebensweltorientierten Wissenserwerb der SchülerInnen im Blick hat. Offener Unterricht, seit fast 40 Jahren in Deutschland ein Thema, dessen Diskussion vom Reformpädagogen Kaspar H. Spinner eingeleitet worden ist, geht von einem neuen kompetenzorientierten Lernbegriff aus.

Offener Unterricht ist bis heute Ausnahme an deutschen Regelschulen und dennoch werden in vielen Bundesländern die Forderung nach Kompetenz- und Handlungsorientierung lauter, wird Kompetenzorientierung zunehmend in die Bildungspläne aufgenommen (vgl. Bonsen/Hey (2002), S. 2). Dabei zielt der erweiterte Lernbegriff auf Subkompetenzen der Handlungskompetenz ab (vgl. Bonsen und Hey (2002), S. 4; Klippert (2000); Jürgens/Sacher 2000). Bei Bohl (2005) werden folgende Subkompetenzen genannt:

Fachlich-inhaltliche Kompetenz: Fachwissen besitzen, urteilen, definieren…
Sozial-kommunikative Kompetenz: visualisieren, planen, exzerpieren, nachschlagen
Selbst- und Persönlichkeitskompetenz: Selbstvertrauen entwickeln, ein realistisches Selbstbild entwickeln, kritikfähig sein… (S. 20)
Mittlerweile findet sich der erweiterte Lernbegriff auch in den aktuellen Bildungsreformen in Form von Schlüsselqualifikationen wieder. Schlüsselkompetenzen müssen aber auch berücksichtigt sein.
Die Wissensgesellschaft bietet einen riesigen Wissenspool, der stetig exponentiell wächst. Schule wäre nicht erfolgreich, würde sie allein Wissen vermitteln, da dieses sehr bald veraltet wäre. Vielmehr müssen Schlüsselkompetenzen ausgebildet werden, mit deren Hilfe sich selbst Wissen angeeignet werden kann. Schule muss „(…) vorwiegend quer liegende Kompetenzen vermitteln, die die spätere Aneignung des jeweils notwendigen (arbeitsplatzspezifischen) Wissens erleichtern" (Bohl (2005), S. 20). Wie Bildungsziele und Lerninhalte muss das Repertoire der Schlüsselkompetenzen stetig erweitert bzw. an die aktuelle Lernbegebenheit angepasst werden (vgl. Deient (2005), S. 64).


Kompetenzbergriff für die Straßenkinderpädagogik

Bezogen auf die beschriebene Lerngruppe, nämlich Jugendliche mit dem Lebensmittelpunkt Straße, fragt Straßenkinderpädagogik nach den Schlüsselkompetenzen, die zum einen zur Lebensbewältigung bereits vorhanden sind, zum anderen benötigt werden, um Träger der Schlüsselkompetenzen zu befähigen. Aus diesem Grund wird für eine Rahmenkonzeption eines Kompetenzmodells und keine festlegende Definition von Schlüsselkompetenzen plädiert. Insbesondere Zeitmanagement, Orientierungskompetenz, transformative Kompetenz (vgl. Bohl (2005) müssen in die Bildung von Jugendlichen mit dem Lebensmittelpunkt Straße unmittelbar einfließen. Sogenannte gesellschaftliche Kompetenzen müssen erworben werden, die jedoch auf den lebensweltlichen aufbauen. Es kristallisiert sich heraus, dass Defizite auf der Ebene von sozialen Kompetenzen festzustellen sind, aber im Sinne einer tiefergehenden Kompetenzstufe, die es näher zu beschreiben gilt (vgl. Deinet (2005), S. 66).

„Dieter-Jürgen Löwisch unterscheidet zwischen Kompetenz ersten Grades, sie erfordert Kompetenzerziehung, sowie Kompetenz zweiten Grades, sie benötigt Kompetenzbildung (Löwisch (2000), S. 13 und S. 79ff)" (Bohl (2005), S. 21). Nach der ersten Definition Löwischs ist der Träger einer bestimmten Sub-Kompetenz gemeint (Fähigkeiten zur Lösung bestimmter Aufgaben), die Kompetenz zweiten Grades besitzt derjenige, der handlungskompetent ist, wenn derjenige also „(…) ein glaubwürdiges, vertrauenswürdiges und verantwortungsvolles Handelns, ein Handeln, „das personale Akzeptanz bei den Betroffenen auslöst" aufweisen kann (Löwisch (2000), S. 81)".

Löwisch erweitert den Kompetenzbegriff um eine ethische Dimension „Die Art und Weise des Umgangs mit Mitmenschen und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung rücken damit in den Vordergrund" (Bohl (2005), S. 22). Genau dies ist die Kompetenzorientierung, zu der beispielsweise die Straßenpädagogik tendiert, die ja Kindern und Jugendlichen in riskantern Lebenslagen Bildung vermitteln will, um u.a. Gewalt und delinquentes Verhalten zu überwinden. "Educational programs developing cognitive and socioemotional competencies can promote peaceful relationships in spite of the violent context” (Chaux (2009), S. 84).

Kompetentes ethisches Handeln soll ermöglicht werden, Kompetenzorientierung demnach "(…) Handeln in immer wieder neuen und originären Lebenssituationen möglich machen" (Girg/Müller (2010), S. 42). Kompetenzen werden über Problemlösungen erlernt (vgl. Weinert 2000). „Der Kompetenzbegriff betont die Stellung und Entwicklung des Subjekts im Bildungsprozess, d.h. er fokussiert individuelle Lernbiografien (Bohl (2005), S. 23). Damit ist Kompetenzerwerb subjektbezogen.


Kompetenzbegriff nach Weinert

Im Jahre 1999 entwickelte der Psychologe Franz Emanuel Weinert für die OECD Studien Definitionsmöglichkeiten von Kompetenz. Für die Entwicklung von Bildungsstandards wird seit 2001 folgende Begriffsbestimmung von Weinert hinzugezogen:  „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können" (Weinert 2001, S. 27 f.)

Weinert bietet einen lerntheoretischen Kompetenzbegriff, der problembezogen formuliert wird. Ziel ist die empirische Überprüfbarkeit der Fähigkeiten und ihre (Leistungs-)Messung (vgl. Bohl (2005), S. 23 und Bauer/Logemann (2009); S. 115). Bevor Kompetenzen aber gemessen werden können, muss deren Definition klar formuliert sein.

In der Debatte um Kompetenzorientierung bleibt die Frage nach der methodisch-didaktischen Zugangsweise und Vermittlung bestehen. Dem stellt sich auch die Straßenkinderpädagogik. Kompetenzerwerb und –vermittlung dürfen von der Alltagserfahrung nicht getrennt werden, da sie übers Handeln angeeignet werden. Zu klären bleibt indes, welche Kompetenz gerade zur Kernkompetenz wird, welche ihre Sub-Kompetenzen oder Teilkompetenzen sind und welche fachübergreifenden Kompetenzen eine Rolle spielen, wie beispielsweise die Kulturtechniken.

Kompetenzen sind subjektbezogen, ihr Erwerb prozesshaft und lebenslang, sie können nur im Handeln beschrieben und gemessen werden. Kompetenzen sind erlernbar (vgl. Deinet (2005)). Der „Dreierschritt der Bewusstmachung, Anwendung und Reflexion der Erfahrung ist ein Grundmuster für die gezielte Einübung von Kompetenzen" (Bonsen/Hey (2002), S. 13). In der Kompetenzdebatte der letzten Jahrzehnte wurden massenhaft Definitionen von Kompetenzen, Zuschreibungen von Teilkompetenzen und Vorschläge zur Kompetenzorientierung für die Schul- und Unterrichtsentwicklung gebracht. Diese gilt es nun zu bündeln und für die vorliegende Arbeit zugänglich zu machen.

Weinert versteht unter Kompetenz mehr als nur Wissen (Weinert (2002); vgl. auch Baumer/Logemann (2009), S. 113) und erweitert den Begriff der Schlüsselkompetenz um Ressourcen, die zur Lösung des Problems herangezogen werden. Die „individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten" (Weinert (2002) sowie Baselt (2005), S. 9) lassen sich in Grundkompetenzen kategorisieren, die als Ganzes Handlungskompetenz beschreiben (vgl. Deinet/Icking in Deinet (2005), S. 65):

Soziale Kompetenz
Fachliche Kompetenz
Methodische Kompetenz
Personale Kompetenz

Heinrich Roth spricht 1998 von einer Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz. Kompetenz wird somit verstanden „(…) als Disposition, die eine Person befähigt, konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen (vgl. Klieme et al., S. 72 f.), und äußert sich in der Performanz, also der tatsächlich erbrachten Leistung." (zitiert von: http://www.kompas.bayern.de/userfiles/infokompetenz.pdf, zugegriffen am 10. September 2011). Zu den Handlungskompetenzen gehören beispielsweise auch Lernkompetenz (LernenLernen), Werteorientierung oder Selbstregulation (vgl Baselt (2005), S. 9 oder Kanzleiter (2005), S. 43), die für die Straßenpädagogik von Bedeutung sind.

Spannend ist der Ansatz der tacit competences, der „heimlichen" Kompetenzen. „Nach Heidrich (2003, S. 122) sind „heimliche" Schlüsselkompetenzen solche, die den Individuen nicht unmittelbar bewusst sind und die sowohl in Arbeitssituationen wie z.B. auch in Familienarbeit eher informell erworben werden" (Deinet/Icking in Deinet (2005), S. 66). Diese informell erworbenen Kompetenzen lassen sich bei den Jugendlichen in besonderen Lebenslagen beobachten.


Jeder dieser Grundkompetenzen können wiederum Sub- oder Teilkompetenzen zugeordnet werden. Die Handlungskompetenz ist als „Resultat der vier anderen Grundkompetenzen" zu verstehen und „ergibt sich durch deren Zusammenspiel" (vgl. u.a. Kanzleiter (2005), S. 43). Da Kompetenzen lösungsorientiert sind, können wir über sie Lebensaufgaben bewältigen. Somit verändert sich der Fokus der Handlungskompetenz je nach Situation, in der kompetentes Handeln erforderlich wird. Damit ergibt sich eine sehr hohe Varietät von möglichen Kompetenzen und Kompetenzmodellen, die wiederum über unterschiedliche Verfahren gemessen und ermittelt werden. Schule und Gesellschaft funktionieren über Leistungsbegriffe, deren Messung und Vergleichbarkeit. „Für sie bedeutet Leistung die Manifestation eines menschlichen Grundbedürfnisses, eine Möglichkeit der individuellen Selbstverwirklichung durch Erfahrung eigener Selbstwirksamkeit; Leistungsanforderungen werden als individuelle Herausforderungen und als notwendige Bedingungen des soziokulturellen Fortschritts verstanden" (Weinert (2002), S. 18). Die PISA-Studien und die KMK (Kultus-Minister-Konferenz) orientierten sich an den Kompetenzdimensionen nach Weinert. Kompetenzen wurden in den letzten Jahren in verschiedenen „erprobten Tests aus den empirischen Schuluntersuchungen" wie IGLU, LAU, KESS, PISA u.a. gemessen (vgl. Janke (2006), S. 9ff bzw. Girg/Müller (2010), S. 42).

Dies geschah anhand festgelegter Kompetenzstufen. Ziel ist immer eine Qualitätsverbesserung bzw. Sicherung beim Kompetenzerwerb. Die Ergebnisse aus den Studien – der sogenannte PISA-Schock hat Deutschland im Mark getroffen – regten die Debatte um Kompetenzorientierung erneut an, auch außerhalb des Lernortes Schule.

Handlungskompetenz und die zugehörigen Grundkompetenzen mit deren Sub-Kompetenzen lassen sich so für jeden Lebens- bzw. Lerninhalt formulieren, also auch für die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen mit dem Lebensmittelpunkt Straße.

Kompetenzen sind nach Weinert also „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können" (Weinert 2001, S. 27 ff.). Sie lassen sich aber differenzieren in Kompetenzen ersten und zweiten Grades. (Löwisch (2000), S. 13 bzw. S. 79ff).


Kompetenzen und „Straßenkinder"
Denn Menschen können durchaus im Sinne des ersten Grades kompetent sein, Sub-Kompetenzen aufweisen, ohne jedoch moralisch kompetent (Kompetenz zweiten Grades) zu handeln. Ein junger Straßenbewohner kann „argumentieren, organisieren, planen, Selbstvertrauen entwickeln" (Bohl (2005) S. 23), aber er handelt im ethischen Sinne nicht unbedingt kompetent, beispielsweise bei der Lebensmittelbeschaffung (Diebstahl). D.h. innerhalb des Kompetenzbegriffs muss auf der Ebene der Handlungskompetenz nochmals unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, da die Gruppe Jugendlicher oftmals als völlig inkompetent dargestellt, ihr Handeln moralisch verurteilt wird, ohne zu differenzieren, welche Sub-Kompetenzen vorliegen. Mit der Differenzierung nach Löwisch wird es möglich, aufzuweisen, wann Straßenkinder objektiv gesehen Kompetenz vorweisen (ersten Grades) und an welcher Stelle eine Ausbildung der soziale Kompetenz (zweiten Grades) wichtig ist. Überdies hinaus findet Kompetenzerwerb in der Praxis auch außerhalb der Schule statt.

Die Rolle des Kompetenzerwerbs für die Straßenpädagogik
Das Straßenleben erfordert wie ein Leben innerhalb der Gesellschaft, die Bewältigung besonderer Aufgaben, die eine Ausprägung bestimmter Kompetenzen mit sich bringt. Die Verfasserin geht von der Annahme aus, dass junge Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist, besondere Kompetenzen erwerben, die ein Überleben auf der Straße möglich machen. Diese Kompetenzen sollen formuliert und eine Rahmenkonzeption für ein didaktisches Modell der Straßenpädagogik bereitgestellt werden.

Die Straßenkinderpädagogik schließt sich der Forderung nach einem lebenswelt- und handlungsorientierten Curriculum basierend auf Kompetenzen für nichtformelle Bildungsangebote an (vgl. u.a., Freire (1984), S. 15). 

Bildung wird demnach als Medium der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung im Sinne „individueller Kompetenzen" verstanden (vgl. Egger (1995), S. 341). „Mit dem Zuwachs an Kompetenz und Wahlmöglichkeiten zur individuellen Lebensführung ergibt sich eine Vielzahl von Chancen, sich den eigenen Vorstellungen entsprechend unabhängig von traditionellen Orientierungsmustern selbst zu verwirklichen. Aber gleichzeitig besteht auch die Notwendigkeit, das eigene Leben selbst zu planen, zu organisieren und zu gestalten, was den Druck erhöht, „etwas aus sich machen zu müssen". Das Versagen wird dem Einzelnen angelastet" (Napolitano (2005), S. 49).


Links und Literatur

http://en.pons.eu/latin-german/competere (zugegriffen am 15. Oktober 2011)

http://www.kompas.bayern.de/userfiles/infokompetenz.pdf (zugegriffen am 15. Oktober 2011)

Baselt, Julia/Berentz, Karin/Lehner, Andrea (Hrsg. u.a.) (2005): Soziale Kompetenzen stärken, München: J. Maiß Verlag.

Bauer, Karls-Oswald/Logemann, Niels (Hrsg.) (2009): Kompetenzmodell und Unterrichtsentwicklung, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Barz, Heiner/May, Susanne (Hrsg.) (2001): Erwachsenenbildung und Sinnstiftung? Zwischen Bildung, Theorie und Esoterik, Bielefeld: Bertelsmann Verlag.

Bohl, Thorsten (2005): Prüfen und Bewerten im Offenen Unterricht, Weinheim, Basel: Beltz Verlag.

Bonsen, Elisabeth/Hey, Gerhard (2002): Kompetenzorientierung – eine neue Perspektive für das Lernen in der Schule, PDF,
http://lakk.bildung.hessen.de/afl/modulkonferenz/modulkonf_ghrf/070918_Bonsen_Hey_Kompetenzorientierung.pdf/details/.

Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik, 39 Jg. 1993, Nr. 2, S. 223-238.

Deinet, Ulrich (Hrsg.) (2005): Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden und Praxiskonzepte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Egger, Rudolf (1995): Biographie und Bildungsrelevanz. Eine empirische Studie über Prozessstruktur moderner Bildungsbiographien, München/Wien: Profil Verlag.

Hauenstein, Urs/Hemmerle, Angela (Hrsg.) (2008): ipf-Q Kompetenz-Portfolio-System. Neue Wege im Qualitätsmanagement für lebenslanges Lernen, Solithurn: Initiative für Praxisforschung.

Janke, Nike (2006): Soziales Klima an Schulen aus Lehrer-, Schulleiter- und Schülerpesrpektive. Eine Sekundäranalyse der Studie „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern – Jahrgangsstufe 4 (KESS 4)", in: Becker, Rolf/Bos, Wilfried, Ditton, Hartmud (Hgg. u.a.) (2006): Empirische Erziehungswissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York, München, Münster: Waxmann Verlag.

Kanzleiter, Götz/Krebs, Reinhold (Hrsg.) (2005): Das Trainee-Programm. Kompetenzen trainieren, Jugendliche gewinnen, Engagement fördern, Stuttgart: Buch und Musik.

Löwisch, Dieter-Jürgen (2000): Kompetentes Handeln. Bausteine für eine lebensweltbezogene Bildung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Napolitano, Sandro (2005): Straßenkinder in Deutschland – eine Lebenssituation. Erklärungsversuche und Handlungsstrategien für ein soziales Phänomen, Oldenburg: Paulo Freire Verlag.

Weinert, Franz Emanuel (Hrsg) (2002): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim, Basel: Beltz Verlag.

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