Strassenkinder in Kolumbien - Gespräche / Interviews

GESPRÄCH MIT VICTOR

Victor ist 14 Jahre alt, groß, dünn und dunkelhäutig. Für ein Straßenkind sieht er auffallend sauber aus. Seine Haare sind ordentlich gekämmt. Er trägt Sportschuhe, Marke Nike, ein ziemlich neues Modell. Aber er wirkt traurig, bewegt sich nur langsam, wie in Zeitlupe, und beim Sprechen entstehen immer wieder kleine Pausen. Das ändert sich erst, als er auf seine Mutter zu sprechen kommt. Jetzt wird er munterer, seine Stimme klingt heller, aber sie drückt Sorge aus. Als er berichtet, was mit ihr geschehen ist, blitzen seine Augen vor Zorn auf. Er schwört, dass er sich an denjenigen, die seine Mutter ins Gefängnis gebracht haben, fürchterlich rächen wird. Während er diese Drohung ausstößt, bohrt sich sein Blick in die Augen seines Gesprächspartners. Man spürt seine heilige Entschlossenheit.

FRAGE: Oh, du warst beim Frisör?

VICTOR: Na klar. Ich habe mich fein gemacht. Ich will nämlich meine Mama besuchen. Sie haben sie eingesperrt, sie ist im Gefängnis.

FRAGE: Weshalb denn das?

VICTOR: Wir haben von den Leuten, die bei uns im Viertel Geschäfte machen, Geld verlangt . Wir hatten einen Revolver und sagten ihnen, dass wir sie und ihre Familienangehörigen töten würden, wenn sie nicht bezahlen. Das hat bisher immer gut funktioniert. Aber eines Tages erwarteten sie uns schon, die Polizei kam und erwischte uns auf frischer Tat. Sie brachten uns aufs Revier. Meine Mama sperrten sie gleich ins Gefängnis und mich ließen sie laufen, weil ich ja noch minderjährig bin. Das ist der Grund, weshalb ich hier gelandet bin. Ich lebe auf der Straße, nehme auch Drogen und bettle, um überleben zu können. Ich will viel Geld zusammen bekommen, damit ich es denen eines Tages heimzahlen kann. Ich werde jemandem Geld geben, damit er die Rechnung mit den Verrä tern begleicht, die meine Mama reingelegt haben. Die Reichen haben alles, man muss ihnen ihr Geld abnehmen. Siehst du nicht, wie sie uns klein machen und erniedrigen? Sie fahren mit ihren schnellen Autos haarscharf an uns vorbei, erschrecken uns und drehen sich dann nicht mal um. (Während er spricht, knibbelt der Junge aufgeregt an seinem Hemd herum. Einige Narben auf seinem Bauch und an den Schultern werden sichtbar.) Siehst du diese Narbe? Die hier hat mir ein Typ mit einer Flasche beigebracht. Wir hatten Streit. Im Laufe der Zeit kommt eine Narbe zur anderen. Das bringt das Leben mit sich.

FRAGE: Und was hast du gefühlt, als man sie dir beibrachte?

VICTOR: Eine Riesenlust, die Kerle fertig zu machen. Irgendwann - da kannst du sicher sein - werden die noch offenen Rechnungen beglichen .

 



Letzte Aktualisierung dieser Seite: 27.09.2012 (s. admin)