Straßenkinder in Bogotá
(Text und Fotos: Hartwig Weber, Mai 2009)

Porträt Bogotá

Inhaltsverzeichnis
Verteilung von Reichtum und Armut in Bogotá
Charakterisierung des Lebens auf den Straßen der Hauptstadt
Zahlen und Fakten
Links und Literatur

Kolumbien ist das Land, Bogotá die Stadt der Straßenkinder. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind dort zahlreiche große Institutionen und Projekte für Straßenkinder entstanden. Bekannt geworden sind vor allem die Straßenkindereinrichtungen des italienischen Salesianerpaters Javier de Nicoló (Nicoló, Javier de. Musarañas. Bogotá 1981) und des Kolumbianers Jaime E. Jaramillo (Jaramillo Echeverry, Jaime, Los hijos de la oscuridad. Santa Fé de Bogotá 1999). In der kolumbianischen Hauptstadt wird seit dem 19. Jahrhundert, teilweise schon seit der Kolonialzeit, das Phänomen obdachloser Minderjähriger beobachtet, seit geraumer Zeit auch wissenschaftlich untersucht. In Bogotá, der reichsten Stadt des Landes, lebt die Hälfte aller Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Nach offiziellen Angaben (Personería de Bogotá) vegetieren Millionen von Minderjährigen in extremer Armut (
http://www.personeriabogota.gov.co/?idcategoria=636.). Viele sind Opfer von Misshandlungen durch ihre Väter, durch Familienangehörige oder andere Erwachsene geworden. Väter, Mütter und Stiefväter machen sich sexueller Übergriffe schuldig, nach Angabe der Personería Distrital "Informe sobre los derechos de los Niños y las Niñas en Bogotá" die Tendenz steigt die Anzahl von Jahr zu Jahr (>Kinderprostitution). In der städtischen Pathologie (Instituto de Medicina Legal) werden jährlich Hunderte von toten Kindern autopsiert, die meisten von ihnen wurden ermordet oder bei Verkehrsunfällen getötet, viele haben sich selbst das Leben genommen. Das Phänomen Straßenkinder ist nur ein Ausdruck unter vielen für die Misere, die Kinder und Jugendliche in der kolumbianischen Hauptstadt zu bestehen haben.

    zwei Jungen 

 

Charakterisierung des Lebens auf den Straßen der Hauptstadt
Armut und Mangel beschreiben den Hintergrund des Phänomens Straßenkinder. Erschwerend kommt in Kolumbien, und insbesondere in Bogotá, die Tatsache der Landflucht hinzu. Ihr verdankt die Stadt die seit Jahrzehnten krebsartig auswuchernden Slums und die beständig wachsende Zahl der Straßenbewohner. In den letzten Jahrzehnten wird die Vertreibung der Landbevölkerung durch bewaffnete Auseinandersetzungen des staatlichen Heeres mit illegalen bewaffneten Gruppen, durch Überfälle, Bedrohungen, Entführungen und Massaker der Guerilla und Paramilitärs, angeheizt. Die Flüchtlinge versuchen, die großen Städte des Landes, allen voran Bogotá, zu erreichen.

Riesige Slums mit Millionen Menschen legen sich als regelrechte Elendsgürtel um die Städte herum. Angesichts des Kulturschocks, der ihnen widerfährt, und der im neuen Lebensumfeld herrschenden Not und Entbehrung zerbrechen viele Familien, die Väter verschwinden, und Frauen sehen sich genötigt, die Rolle von Familienoberhäuptern zu übernehmen. Sie haben nicht selten eine große Schar von Kindern zu ernähren, suchen irgendwo in der Stadt, in den Gegenden der Reichen, nach einer Beschäftigung und müssen die Kleinen oft tage- oder gar wochenlang sich selbst überlassen. Die Kinder, allein und unversorgt, versuchen nun, irgendwie zu überleben. Sie verlassen ihr Zuhause zum Betteln, übernehmen Gelegenheitsarbeiten. Anfangs bleiben sie nur kurzfristig außer Haus, dann immer häufiger und länger, schließlich tauchen sie in die Subkultur der Straße ein. Um dort überleben zu können, werden sie kriminell, konsumieren und handeln mit Drogen, prostituieren sich.

Die wenigstens Straßenkinder in Bogotá sind von ihren Familien verstoßen worden. Als Gründe, weshalb sie ihr Zuhause verlassen haben, nennen die meisten Schläge, Ausbeutung und Missbrauch durch Erwachsene. In der Familie fehlten ihnen Fürsorge, Zuwendung und Zukunftsperspektiven. Auf der Straße wird ihnen schockartig bewusst, dass ihnen dort das gleiche Schicksal widerfährt. Sie finden niemanden, dem sie vertrauen können.

Straßenkinder nannte man in Kolumbien früher gamines, meninos de rua in Brasilien, pelones in Mexiko. Ihr äußeres Kennzeichen war Verwahrlosung und Schmutz. Heute ist das meist anders: Jugendliche Straßenbewohner sehen sauberer und gepflegter aus. Das gilt vor allem für die Mädchen und Jungen, die sich prostituieren (>Kinderprostitution).

Gleich geblieben ist hingegen der verbreitete Konsum von Drogen. Insbesondere die Kleinen inhalieren Schusterleim, früher schnüffelten sie Benzin. Später gehen sie auf Marihuana und schließlich Bazuko über. Das Leben auf der Straße, Angst und Hunger, können sie nur dadurch meistern, dass sie sich mit Drogen selbst betäuben.

Sie leben in beständiger Angst und Bedrohung durch ihresgleichen, durch Drogenhändler, die Polizei und Todesschwadronen ("limpieza social"). Immer wieder tauchen in der Presse Berichte über Straßenkinder auf, die gefangen und ihrer Organe beraubt worden seien, um damit die Nachfrage des internationalen Handels zu befriedigen.

Straßenkinder und Jugendliche, die sich von zu Hause ganz abgewendet und den Kontakt zur Herkunftsfamilie abgebrochen haben, arbeiten in der Regel nicht. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, betteln und stehlen sie. Größer ist die Anzahl derjenigen, die zwar auf der Straße leben, gelegentlich, manchmal auch regelmäßig, Kontakt zu ihren Familien suchen, oder nur den Tag auf der Straße verbringen, um abends zu Hause zu übernachten. Dies gilt insbesondere für diejenigen Minderjährigen, die auf der Straße arbeiten, Schuhe putzen, an den Ampeln, wo der Verkehr zum Stehen kommt, Autoscheiben wischen, Zigaretten und Süßigkeiten verkaufen. Im Unterschied zu den Obdachlosen konsumieren diese Kinder in der Regel keine Drogen. Früher sah man viel mehr Jungen auf den Straßen Bogotás. Heute hat sich die Zahl der Mädchen auf 20 bis 30 Prozent erhöht.

Zahlen und Fakten
Die Angaben zur Zahl der obdachlosen Kinder und Jugendlichen in Bogotá reichen von 2.500 bis über 100.000. Die große Bandbreite hängt zum einen mit der Unbestimmtheit des Begriffs "Straßenkinder", zum anderen mit der Schwierigkeit der statistischen Erfassung von Menschen zusammen, die ständig in Bewegung sind, sich frühmorgens vielleicht im Süden, zur Mittagszeit im Zentrum und abends im Norden der Stadt aufhalten, je nachdem, wo sie ein Auskommen zu finden glauben. Bei Befragungen zeigen sich viele Straßenkinder abweisend. Sie werden schlafend angetroffen oder sind im Drogenrausch kaum ansprechbar. Die Interviewer sind für ihre Aufgabe meist unzureichend ausgebildet. Die Gegenden, wo sich Straßenbewohner aufhalten, sind ihnen fremd, feindlich und gefährlich. Sie verstehen die Sprache von Straßenkindern nur unzureichend und in der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit gelingt es ihnen kaum, deren Vertrauen zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der meisten Untersuchungen zu gewichten. Bei einer von DANE (Departamento Administrativo Nacional de Estatística) im Jahr 2001 durchgeführten Erhebung wurden in Bogotá 2.797 Straßenkinder unter 21 Jahren ausfindig gemacht. Man stellte fest, dass ihre Zahl seit Jahren stark zunahm. Von dieser Angabe auf die tatsächliche Anzahl obdachloser Kinder und Jugendlicher in der Hauptstadt zu schließen, ist nicht möglich.

Dasselbe gilt für Untersuchungen von DANE in den Folgejahren. 2003 wurden 13.415 Straßenbewohner gezählt, von denen 76 Prozent bereits seit sechs Jahren und länger, etwa 5 Prozent seit drei Jahren und 2 Prozent seit weniger als einem Jahr obdachlos waren (IV Censo sectorial de habitantes de calle Bogotá-Soacha, realizado por el DANE y el programa IDIPRON). Als Grund dafür nannte mehr als die Hälfte der Befragten familiäre Konflikte. Die meisten hatten eine nur geringe Schulausbildung. Rasch wechselnde Partnerschaften, frühe sexuelle Erfahrungen, oft schon vor dem 12. Lebensjahr, kaum Verhütungsmaßnahmen, ungewollte Schwangerschaften und Drogenabhängigkeit erwiesen sich als charakteristisch für sie.

2005 machte eine weitere Untersuchung in Bogotá 1.886 Straßenkinder aus, 94 Prozent von ihnen lebten in Einrichtungen, nur 6 Prozent auf der Straße (DANE; Censo de población, 2005; UT Econometría-SEI “Censo de niños y niñas en situación de calle, ciudad de Bogotá). Auch diese Erhebung erlaubt keinen Schluss auf die tatsächliche Anzahl von Straßenbewohnern, vielmehr zeigt sie, wie schwierig es ist, Kinder und Jugendliche der Straße überhaupt ausfindig zu machen. Von der angetroffenen Population war etwa die Hälfte zwischen 12 und 17 Jahre alt, ungefähr 60 Prozent weiblichen Geschlechts. Die Mädchen zeigten größere Bereitschaft, sich in Institutionen aufnehmen zu lassen, als die Jungen. 16 Prozent der obdachlos auf der Straße Angetroffenen waren jünger als 7 Jahre alt. Die überwiegende Zahl der Mädchen und Jungen wies äußerlich sichtbar Narben und Zeichen gesundheitlicher Beeinträchtigung auf. Die meisten der über Sechsjährigen konnten lesen und schreiben, sie hatten die Grundschule bis zu einem bestimmten Klassenniveau besucht. Die Jungen übernachteten häufiger auf der Straße, in Parks oder unter Brücken, während die Mädchen es in der Nacht vorzogen, sich eine Bleibe in einem Haus zu suchen. Ihren Lebensunterhalt bestritten die meisten Jungen und Mädchen mit Müllsammeln, Verkauf von Süßigkeiten und durch Bettelei. Andere bewachten Autos, wuschen sie oder putzten Scheiben. Auf die Frage, an wen sie sich wenden könnten, wenn sie in Not wären, antworteten die meisten: "An niemanden."

Straßenkinder sind oft krank. Die genannte Untersuchung fand heraus, dass die am meisten verbreiteten Leiden Grippe und Erkältungen sind, gefolgt von Zahnschmerzen, Kopfweh, Durchfall, Hauterkrankungen und Schlafstörungen.

Links und Literatur

>NIÑOS EN PELIGRO

>NIÑOS DE LOS ANDES: FUNDACIÓN QUE LABORA EN BOGOTÁ

>POBREZA DE LA NIÑEZ EN BOGOTÁ

>ZONAS MAS RICAS Y MAS POBRES DE BOGOTÁ


Literatur


Nicoló, Javier de: Musaranas, Bogotá 1981.

Jaramillo, Echeverry, Jaime: Los hijos de la obscuridad, Santafé de Bogotá 1999.



Letzte Aktualisierung dieser Seite: 15.01.2013 (s. admin)