![]() ![]() Gamines in Bogotá, ca. 1925
"Straßenkinder" in der Geschichte Inhalt Quellen
Bettelkinder sind Minderjährige unter 14 Jahren. Darunter fallen (1.) vagierende (unbehauste) Kinder mit oder ohne Familie; (2.) Kinder, die bei einem Elternteil lebten und zeitweilig oder beständig bettelten, und (3.) Minderjährige in Familien mit Vater und Mutter, die hin und wieder bettelten. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Lebensumstände. Die Eltern der Bettelkinder waren durchweg verarmt, soziale Absteiger, Kranke, Blinde, Krüppel und "Unehrliche". Häufig waren die Familien im Elend auseinandergebrochen. Nicht selten hört man von Stiefelternteilen, die die ihnen fremden Sprösslinge so schlecht behandelten, dass sie das Weite suchten. Im 17. und 18. Jahrhundert war der Kinderbettel ein Massenphänomen und artete in manchen Städten und Regionen zu einer regelrechten Plage aus. Mitunter zogen Hunderte von Kindern durch die Straßen mit Brotkörben und Almosenbüchsen. Kinderarbeit und Kinderbettel gingen Hand in Hand und waren nicht scharf voneinander zu trennen. Die wenigsten Bettelkinder hatten eine Schule besucht, kaum eines konnte lesen und schreiben. Ein lebendiges Bild der bettelnden Kinder in der Zeit des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit vermitteln insbesondere die Forschungen von Helmut Bräuer: Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800, Leipzig 2010 (auf dieses Buch bezieht sich der unten stehende Artikel im Wesentlichen); vgl. auch Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, Frankfurt am Main 2000 und Markus Meumann: Unversorgte Kinder. Armenfürsorge und Waisenhausgründungen im 17. und 18. jahrhundert, in: Udo Sträter u.a. (Hg.): Waisenhäuser in der frühen Neuzeit, Halle und Tübingen 2003, S. 1ff. Quellen Das Konzept zur Bekämpfung des Kinderbettels, "des größten Uebels in der menschlichen Gesellschaft", das sich seit dem Ausgang des Spätmittelalters herausbildete, hieß dienende Arbeit. Dabei hatte man keinen Blick für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen des Problems. Armut und Bettelei galten als persönliche Fehler und Folge von Eitelkeit, Lüsternheit und der Neigung zu kriminellen Handlungen. Statt Wohltätigkeit war Strafe angesagt. Die Programme, die die Obrigkeiten erließen, ordneten Erziehung zum Gottesglauben, Kirchenzucht, Fleiß, Untertänigkeit und Wohlverhalten an. Die Quellen, die hiervon Kenntnis geben, spiegeln nicht die ganze Wirklichkeit wider; meist handeln sie von Überschreitungen der Gesetze und von Normverstößen. Direkte authentische Überlieferungen von Betroffenen finden sich nur sehr selten, etwa in Akten von Prozessen gegen Bettelkinder und Kinderhexen, deren Äußerungen dort bisweilen wörtlich zitiert werden. Kinder sprechen immer nur über Erwachsene zu uns. Ursachen Die Misere verarmter Eltern setzte sich gewöhnlich in der folgenden Generation fort, wenn die Kinder das Lebensmuster ihrer Vorfahren weiter führten. Hungersnöte, Dürren, Unwetter und Seuchen vertieften das Elend. Infolge der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges lungerten Kinder und Jugendliche in Scharen auf den Straßen herum, ohne Nahrung und Dach über dem Kopf. Die zahlreichen Kriege vergrößerten die Anzahl der Witwen und Waisen. Im 18. Jahrhundert begann man, die hauptsächliche Ursache der Verarmung in mangelnder Bildung der Unterschichten zu sehen. Fortan galt Pädagogik als Schlüssel zur Weltverbesserung. Im Zeichen christlicher Bildung wurden mehr und mehr Waisen-, Zucht- und Arbeitshäuser eröffnet. Milieus der Armut Alleinstehende, verwahrloste und bettelnde Kinder, deren primäres Anliegen darin bestand, Nahrung zu beschaffen und einen einigermaßen sicheren Schlafplatz für die Nacht zu finden und zu organisieren, gehörten im 18. Jahrhundert zum Straßenbild. Der Bevölkerung galten diese Kinder als Feinde. Bisweilen waren es die Eltern selbst, die ihre Kinder auf die Straße schickten und erfolgreiche Ergebnisse einforderten. In anderen Fällen ergriffen Kinder die Initiative. Viele lebten weiterhin im Haus ihrer Eltern, andere verließen ihre Familien und kehrten auch nachts nicht mehr zurück. Nicht selten waren Geschwister gemeinsam unterwegs. Häufig bildeten sich geschlechtergemischte Gruppen von Bettlern. Bettelkinder entstammten durchweg dem typischen Arme-Leute-Milieu. Ihre Eltern gehörten zur gering qualifizierten Unterschichtbevölkerung, die Väter waren Taglöhner, Diener, Knechte und hatten meist kein gesichertes Einkommen. Hinzu kamen invalide und entlassene Soldaten und verarmtes Hofpersonal in den Residenzstädten. Oft waren die Familien in Kriegzeiten aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden und schlugen sich hinfort ohne Wohnerlaubnis, ohne Bürger- und Schutzrechte durch. Die Verhältnisse zwangen zur Beschaffungsbettelei und -kriminalität. Betteln und gelegentliches Arbeiten auf der Straße gingen Hand in Hand. Naturgemäß bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit der Eltern und der dadurch veranlasstem Straßenarbeit oder dem Bettel der Kinder, der als Ersatz für die entfallende Arbeitsleistung der Eltern herhalten musste. Manche Familien waren so arm, dass ihnen nichts übrig blieb, als ihre Kinder wegzuschicken, sie wegzugeben, zu verschenken oder "auszuleihen". Weggabe war eine im Bettelmilieu verbreitete, freundlichere Alternative zur Kindestötung oder Aussetzung. Die Eltern erzielten dadurch nicht nur einen Gewinn, darüber hinaus bestand der Vorteil, dass ein Esser weniger zu versorgen war. Die verkauften Kinder dienten behinderten Bettlern beim Eintreiben von Almosen; Kleinkinder sollten die Mildtätigen zur Barmherzigkeit rühren. Mit der Zeit wurden die ausgeliehenen Kinder zu Experten der Bettelei und Kriminalität, denen sie oft lebenslang verbunden blieben. Von der Weggabe schon im Säuglingsalter waren besonders außerehelich geborene Kinder betroffen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts nahm die Zahl der Aussetzungen sprunghaft zu. Mitte des 19. Jahrhunderts sollen in Europa 100 000 Findelkinder pro Jahr aufgegriffen worden sein. Ihre Anzahl war in römisch-katholischen Regionen größer als in protestantischen Gegenden. In Krisenzeiten sprangen die Aufnahmen in den Findelhäusern bisweilen auf das Drei- bis Fünffache (vgl. Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, Frankfurt am Main 2000). Nicht selten wurden Aussetzungen erst vorgenommen, als die Kinder schon zwei, drei oder vier Jahre alt waren. Die in den Findelhäusern Aufgenommenen erwartete, wenn sie dort überhaupt überlebten, ein Dasein am Rand der Gesellschaft, nur die allerwenigsten schafften es, später Handwerker zu werden. Bettelei und Kriminalität Bettlerbanden, Bettelstrategien Krankheiten Maßnahmen von Obrigkeiten und Kirchen Die Obrigkeiten versuchten, den Kinderbettel durch drakonische Strafen, Auspeitschen und Markierungen am Körper mit Brandzeichen einzudämmen. Bettelkinder, die man ergreifen konnte, mussten entehrende Arbeiten leisten, Unrat beseitigen, Latrinen säubern. Andere wurden über die Grenzen der eigenen Herrschaft hinausgetrieben. So versuchte man, vor der Bettelei abzuschrecken. Die Obrigkeiten ergriffen, wenn die Bettelpage überhand zu nehmen drohte, umfassende Maßnahen zur Aufspürung, zum Einfangen und Abschieben der Vaganten, Kriminellen, Zigeuner und Bettler, unter denen sich auch zahlreiche Kinder befanden. Die ausgesendeten Häscher waren oft ausgemusterte und invalide Soldaten, die zu Gassenmeistern, Torknechten, Straßenbereitern und Almosenknechten ernannt wurden. Sie versuchten, die bettelnden Kinder zu verjagen, wenn möglich trieben sie sie aus dem Bereich der eigenen Zuständigkeit hinaus. Die vertriebenen Kinder sammelten sich dann jenseits der Grenzen und kehrten auf verborgenen Wegen zurück. Über Land fahrenden Bettlerfamilien versuchte man, ihre Kinder abzunehmen, Eltern und Kinder zu trennen. Dies führte häufig dazu, dass die Kinder und Jugendlichen über kurz oder lang selbständig Gruppen bildeten, um sich gegenseitig unterstützen und beistehen zu können. Bettelkinder, Kinderhexen Besonders bekannt wurde der Prozess gegen den "Zauberer-Jackl", in dessen Verlauf jugendliche Bettler unter der Folter Teufelsbuhlschaft, Vieh- und Milchvergiftungen, Hexenflug, Hostienschändung und Wetterzauber eingestanden. Wegen zauberischer Untaten wurden u.a. 1678 neun- bis dreizehnjährige Bettelkinder mit dem Fallbeil oder dem Schwert getötet, andere wurden durch Erdrosseln hingerichtet. So gelang es den kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten, die Bettelplage vorübergehend einzudämmen. Spitäler, Waisenhäuser, Findelhäuser, Arbeitshäuser Das Erziehungskonzept in den Waisen-, Arbeits- und Zuchthäusern - zum Beispiel in Amsterdam, Hamburg, Lübeck, Kopenhagen, Würzburg, Bamberg und Dresden - zielte darauf ab, den widersetzlichen Willen der Kinder und Jugendlichen im Sinne der pietistischen Sünden- und Heilslehre zu brechen. Das traditionelle Spital, in dem während des Mittelalters Waisen und Findelkinder untergebracht wurden, wandelte sich im Laufe der Frühen Neuzeit von einer multifunktionalen Armen- und Fremdenanstalt zur Krankenstätte und zum Krankenhaus des 18. Jahrhunderts. Bildung In Häusern, die merkantilen Betrieben zugeordnet waren, dauerte der Arbeitsalltag der Gassen- und Waisenkinder bisweilen 14 Stunden. Im 18. Jahrhundert nahm der Gedanke freiwilliger Arbeitshäuser wachsenden Raum ein. Ziel blieb aber auch dann der ökonomische Erfolg. Helmut Bräuer: Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800, Leipzig 2010; Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, Frankfurt am Main 2000; Markus Meumann: Unversorgte Kinder. Armenfürsorge und Waisenhausgründungen im 17. und 18. jahrhundert, in: Udo Sträter u.a. (Hg.): Waisenhäuser in der frühen Neuzeit, Halle und Tübingen 2003, S. 1ff. | |
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 27.09.2012 (s. admin) |