Jenny und Rieke. Eine Fallgeschichte
(Sebastian Moritz, KUB Berlin)
 

Jenny (16) und Rieke (15) lebten vor ihrem Entschluss wegzulaufen bei ihren Eltern in der Nähe von Remscheid. Bekanntschaft schlossen sie mehrere Wochen vor ihrer Flucht  über das Internet und verabredeten sich, gemeinsam abzuhauen. Beide waren vor ihrem Auftauchen in Berlin schon mehrere Wochen unterwegs. Sie zogen zu zweit von Stadt zu Stadt und tauchten in den jeweiligen Straßenszenen unter. Sie nächtigten bei neuen Kumpels und Freunden oder schliefen in öffentlichen Parks. Den Kontakt zu ihren Eltern hatten sie abgebrochen, nur hin und wieder (ein- bis zweimal wöchentlich) gab es per SMS Lebenszeichen von Seiten der Mädchen.

Die Eltern haben nach dem Verschwinden der Mädchen Vermisstenanzeigen aufgegeben und hofften darauf, dass die beiden von der Polizei aufgegriffen würden. Die Mütter der Mädchen ließen es dabei nicht bewenden,stellten eigene Recherchen an und begaben sich auch selbst auf die Suche. Über Freunde und Bekannte der Mädchen bekamen sie Hinweise über die Aufenthaltsorte der beiden. Vor allem die Mutter von Rieke  begab sich auf die Suche und wollte die direkte Auseinandersetzung, da sie den Ausstieg ihrer Tochter nicht einfach so hinnehmen mochte. Nachdem sie herausfand, dass sich die Freundinnen in Berlin aufhielten, fuhr sie mit ihrem Mann nach Berlin, um ihre Tochter am Alexanderplatz zu suchen und sie zum Heimkommen zu bewegen. Dieser Versuch ging gänzlich schief und endete in einer Schrei- und Schimpftirade Riekes, nachdem die Eltern sie am Alexanderplatz aufgespürt hatten. Entsetzt und besorgt zogen sich die Eltern zurück und suchten nach anderen Möglichkeiten Kontakt zu ihrer Tochter zu bekommen.

Die Mutter von Rieke fand heraus, dass sich mehrer Organisationen um die Jugendlichen am Alexanderplatz bemühten und ihnen mit Beratung und Hilfe zur Seite stehen. Sie hoffte, über sie einen Kontakt zu ihrer Tochter herstellen zu können. Sie musste jedoch feststellen, dass  ihr die Straßensozialarbeiter mit Skepsis und Misstrauen entgegen traten. Der Grund für diese Skepsis nährte sich vorwiegend aus der Sorge, dass durch die direkte Zusammenarbeit mit der Mutter ein möglicher Kontakt zu den Mädchen verhindert werden bzw. erst gar nicht zustande kommen könnte. Es galt also, einen Weg zu finden, der dem Bedürfnis der Mutter gerecht wurde und gleichzeitig Rieke und Jenny nicht abschreckte, Kontakt zu uns aufzunehmen.

Bei dem Erstgespräch mit der Mutter von Fini wurde deutlich, dass die beiden Mädchen noch nicht an unserem Beratungsbus aufgetaucht waren. Sie mieden offensichtlich jeden Kontakt zu den Organisationen und Vereinen, die den Jugendlichen am Alexanderplatz Hilfe anboten, da sie davon ausgingen, festgehalten und nach Hause gebracht zu werden. Nachdem wir die Mutter über unsere Arbeitsweise und Hilfeangebote informiert und sie uns über den Werdegang ihrer Tochter  in den letzten Wochen und Monaten aufgeklärt hatte, suchten wir nach Möglichkeiten, um Kontakt zu den Mädchen zu bekommen. Da wir wissen, was die Jugendlichen auf ihren Trebegängen benötigen und sich die Mutter von Rieke sehr um das Wohlergehen ihrer Tochter sorgte, schien uns der Versorgungsaspekt auf der Straße der geeignete  Anknüpfungspunkt zu sein. Wir schlugen der Mutter vor, Rieke ein Paket mit den nötigsten Dingen über uns zukommen zu lassen.

Die Mutter war begeistert von dieser Idee und sah dadurch auch die Möglichkeit, ihrer Tochter Dinge zu schicken, die sie wahrscheinlich vermissen würde. Darunter auch Bücher, da sie eine ausgesprochene Leseratte ist. Da wir noch keinen Kontakt zu den beiden Mädchen hatten, baten wir die Mutter darum, ihrer Tochter eine SMS mit unseren Busstandzeiten zu schicken und das Paket anzukündigen. Gleichzeitig baten wir darum, dass sie auch Kontakt mit der Mutter von Jenny aufnehmen sollte, um sie über das  Vorgehen zu informieren. Beide Mütter waren seit dem Verschwinden ihrer Töchter im ständigen Kontakt miteinander und konnten sich gegenseitig stützen.

Auch Jennys Mutter war von diesem Vorgehen angetan und wollte ihrer Tochter über uns Geld zukommen lassen. Wir vereinbarten mit ihr, dass es sinnvoll wäre, mehrere Auszahlungen pro Woche über uns laufen zu lassen, damit wir mit ihrer Tochter in Kontakt bleiben und mit ihr arbeiten können. Auch hier baten wir darum, Jenny per SMS zu benachrichtigen.

 Beim nächsten Dienst standen wir zwei skeptischen Mädchen gegenüber, die schon auf unseren  Beratungsbus gewartet hatten. Über die SMS der Eltern waren sie über unsere Standzeiten informiert. Obwohl skeptisch, ließen sie es sich nicht nehmen, nach einer möglichen Geldauszahlung zu fragen. Wir kamen darüber ins Gespräch. Beide  nahmen auch unser  weiteres Versorgungsangebot (Essen, Trinken etc.) an und ließen sich mit einem Mitarbeiter des Busses auf ein kleines Beratungsgespräch ein. Sie  berichteten ihm über ihr Zuhause und ihren Werdegang. Nach Hause zurück wollten sie nicht. Sie waren entschlossen, auch die nächsten Wochen und Monate unterwegs zu sein, da ihre Eltern sie zu Hause  nur reglementierten und kein Verständnis für sie hätten.  Daher waren beide auch  sehr erstaunt darüber, dass ihre Eltern sie auf der Straße unterstützen wollten und hielten es für einen Trick, mit dem Einsicht vorgetäuscht werden sollte.  Vor allem Jenny konnte es nicht so richtig glauben, dass ihre Mutter sie mit Geld versorgt und sie gewähren ließ. Rieke kündigte der Mitarbeiter das Paket von ihrer Mutter an. Auch sie war darüber irritiert. Es wurden beiden mitgeteilt, dass wir mit ihren Eltern auch weiterhin in Kontakt bleiben werden. Von den Mitarbeitern des KuB-Busses wurden sie eingeladen, unser Bus-, Schlaf- und Beratungsangebot zu nutzen, solange sie in Berlin sind. Es wurde ihnen versichert, dass sie von uns nicht zu befürchten hätten, gegen ihren Willen nach Hause gebracht zu werden. Wir teilten ihnen ebenfalls mit, dass die Vermisstenanzeige und polizeiliche Fahndung weiter bestehen bleiben wird und sie jederzeit Gefahr laufen können, von der Polizei aufgegriffen und nach Hause geschickt zu werden. Es wurde ein weiteres Treffen zum nächsten Busdienst (zwei Tage später) verabredetet.

Beim nächsten Busdienst konnten die Mitarbeiter des KuB-Busses Rieke das Paket ihrer Mutter übergeben. Beide Mädchen blieben diesmal länger an unserem Beratungsbus und fassten zu mir und uns sichtlich mehr Vertrauen. Sie begriffen, dass sie ernst genommen wurden und wir sie nicht dazu drängen, nach Hause zu gehen. Sie ließen sich auf ein längeres Gespräch ein. Sie berichteten, wie sie sich kennen gelernt und  die letzten Wochen verbracht hatten. Sie hatten die Vorstellung, sich einen Job zu suchen und in einer eigenen Wohnung zu leben. Unser Mitarbeiter berichtete von seinen Gesprächen mit ihren Eltern. Es war wichtig, ihnen etwas von der Sorge der Eltern um sie mitzuteilen. Gleichzeitig wurde ihnen bestätigt, dass ihre Eltern die jetzige Situation akzeptieren und danach fragen, ob sie den Beiden noch etwas zukommen lassen können. Jenny berichtete von einem gepackten Koffer, der noch bei ihrer Mutter ist. Es wurde abgesprochen, mit ihrer Mutter darüber zu reden, uns den Koffer zu schicken, damit sie mit Sachen versorgt ist. Wir verabredeten für den kommenden Tag ein Treffen in den Räumen unseres Kontaktcafés. Da wir an diesem Tag in der Woche ein Frühstück für die Jugendlichen anbieten.

Im Verlaufe dieses Frühstücks kamen die beiden Mädchen auf das Paket zu sprechen. Rieke erzählte begeistert von den Dingen, die sie bekommen hatte. Vor allem über das Buch hat sie sich sehr gefreut. Jenny kommentierte die Ausführung von Fini belustigt und regte sich über das Buch ganz besonders auf. Sie beklagte sich bei Rieke, die Sache nicht ernst zu nehmen, da sie sich (wie auf einer Ferienreise) Bücher schicken ließ. Unser Mitarbeiter nahm diese Klage auf und wollte von Jenny wissen, ob sie sich vorstellen könnte, von ihre Mutter auch ein Buch geschickt zu bekommen. Sie verneinte lautstark und meinte, dass sie das bestimmt nicht machen würde. Kurz vor Ende des Frühstücks kam Jenny auf den Mitarbeiter zu und teilte ihm mit, dass er ihre Mutter auch um ein Buch bitten sollte. Auf  Nachfrage, welches Buch sie denn gerne hätte, überlegte sie einen Moment und gab ihm den Auftrag, ihrer Mutter zu sagen, dass sie ein Buch möchte, das zu ihrer jetzigen Situation passt.

Beiden Müttern wurde der Stand der Dinge telefonisch mitgeteilt. Der Mutter von Rieke konnten wir über die Freude und die positive Annahme des Paketes berichten, während der Mutter von Jenny die beiden Wünsche ausgerichtete wurde. Sie war über den Buchwunsch irritiert und wollte unsere Einschätzung dazu wissen. Es wurde ihr mitgeteilte, dass die Erfüllung dieses Wunsches nicht für einfach sei, wir aber zuversichtlich sind, dass sie etwas finden wird.

 Da die Mutter von Jenny in Kürze nach Berlin kommen wollte verabredeten wir ein Treffen, bei dem sie uns den Koffer und das Buch geben wollte. Bei dem Treffen, für das sich unsere Mitarbeiter etwas mehr Zeit nahmen, überreichte uns die Mutter von Jenny zwei Bücher. Das eine Buch war ein Jugendroman, in der die Hauptfigur (ein junges Mädchen) von Zuhause abhaut. Das andere war ein Sachbuch, in dem Eltern zu Wort kamen, deren Kinder abgehauen sind. Dieses Buch hatte die Mutter schon gelesen und für sich einige Passagen angestrichen. Sie war unsicher, welches Buch richtig sei und wollte Rat von uns. Es wurde vorgeschlagen, dass sie beide Bücher dalassen sollte. Jenny würde eine Entscheidung treffen, die zu ihr passt

Beim kommenden abendlichen Treffen mit Jenny und Rieke in unserm Jugendcafé wurde Jenny der Koffer und die beiden Bücher übergeben. Jenny wurde mitgeteilt, dass ihre Mutter sich nicht entscheiden konnte und ihr die beiden Bücher zur Wahl stellt. Sie entschied sich ganz klar für das Sachbuch und fing noch während unseres Gespräches an zu lesen. Da die Freundinnen immer gemeinsam im Beratungsgespräch waren unterhielten sich Rieke weiter mit unsren Mitarbeitern, während Jenny las. Jenny fing nach einigen Minuten an zu weinen und konnte nicht weiterlesen. Die angestrichenen Passagen und die Erzählungen der betroffenen Eltern rührten sie. Rieke konnte diese Situation schwer ertragen und las belustigt aus dem Buch vor. Nach einem kurzen Streit, den die Freundinnen miteinander hatten, machten sie sich auf den Weg zu ihrer Schlafstätte. Am kommenden Vormittag erschienen die Beiden wieder zum Frühstück in unserem Jugendcafé. Sie berichteten, dass sie die ganze Nacht in dem Buch gelesen, wenig geschlafen und viel geweint hätten. Vor allem Jenny wackelte in ihrer Entscheidung, weiterhin unterwegs zu sein. Den Vorschlag, ihre Mutter anzurufen, nahm sie dankend an. Nach einem längeren Telefongespräch entschied sich Jenny, noch am selben Tag zurückzukehren. Sie fuhr zusammen mit ihrer Mutter, die sich noch in Berlin aufhielt, zurück nach Remscheid.

Rieke konnte die Entscheidung ihrer Freundin nicht verstehen und blieb in Berlin. Den Kontakt zu ihrer Mutter hielt sie jedoch weiter per SMS und durch kleinere Telefongespräche. In den folgenden zwei Wochen gab es zunehmend mehr Kontakt zwischen den beiden. In den Telefongesprächen konnte wir die Mutter von Rieke nur weiter ermutigen, den Kontakt aufrecht zu erhalten und Geduld zu haben. Nach unserer Einschätzung würde sich Rieke nicht auf längere Sicht in der Szene halten können. Sie wirkte noch sehr kindlich und hatte keine Ambitionen, Alkohol oder Drogen zu sich zu nehmen. Mit der Mutter besprachen wir zu diesem Zeitpunkt eine mögliche Rückkehr Riekes. Welche Wege (Jugendamt, Beratung, Schule) werden evtl. nötig sein. Gibt es Veränderungen innerhalb des Familienalltages oder des Umgangs miteinander? Welche Auswirkung wird ihr Weglaufen haben, wenn sie zurückgekommen ist? 

 Rieke nächtigte nach dem Weggang von Jenny mehr und mehr in unserer Notübernachtung. Die Szene am Alexanderplatz besuchte sie tagsüber, fand aber keine richtigen Zugang zu den Jugendlichen dort. Nach einigen Reibereien und unschönen Szenen, die sie dort mitbekommen hatte, entschloss sie sich, nach zwei Wochen nach Hause zurückzukehren.

Die Mutter von Rieke hat sich zwei Wochen nach ihrer Rückkehr nochmals bei uns gemeldet und erstaunt davon berichtet, dass Rieke sich ohne weiteres gut zuhause eingefunden hat. Sie leben zusammen, als wäre die zweimonatige Abwesenheit nicht gewesen. Jenny hat sich nach einem halben Jahr nochmals bei uns blicken lassen. Sie und ihre Mutter sind nach Berlin gezogen und lebten gemeinsam in einer Wohnung. Jenny haben wir in der Szene am Alexanderplatz und am Bahnhof Zoo nicht mehr angetroffen.

 



Letzte Aktualisierung dieser Seite: 20.09.2012 (s. admin)