Ronald Lutz
Beschleunigung und Erschöpfung
 
Im modernen Kapitalismus zeigen sich zwei Grundprinzipien: Wachstum und Beschleunigung. Es gibt nicht nur immer mehr, sondern vieles auch immer schneller – Zeit ist Geld (Rosa 2005). Das Tempo des sozialen Wandels nimmt zu, Assoziationsformen, Wissensbestände und Praxisformen beschleunigen sich stetig. Es ist zu vermuten, dass es darin kritische Schwellenwerte gibt, in denen die Wahrnehmungen und die sozialen Wirklichkeiten qualitativ umschlagen und es zu Veränderungen des Raum-Zeit-Regimes, der Subjektivitätsformen und der politischen Verhältnisse kommt (Rosa 2009, 103 f.). Sobald dieser Wandel dabei ein höheres Tempo als die Generationenfolge erreicht, sind gravierende Folgen für die lebensweltliche Verlässlichkeit und Kontinuität zu erwarten, die Subjekte nicht unberührt lassen. Jenseits eines kaum eindeutig bestimmbaren Wandels fester Strukturen, so Harmut Rosa, sind Veränderungen als fundamental und als eine „potentiell chaotische Unbestimmtheit„ zu diagnostizieren (Rosa 2009, 104) – die Verwundbarkeit der Subjekte wächst.

Wir erleben offenkundig, wenn wir den Analysen des Soziologen Hartmut Rosa folgen, derzeit eine weitere und radikal fortschreitende Beschleunigung, die intra-generationalen Tempi werden immens gesteigert; die Zeit vergeht aus der subjektiv gefühlten Wahrnehmung heraus schneller als je zuvor. Dies bedingt sich vor allem aus einer wachsenden Belastung im Arbeitsalltag, die Abläufe verkürzt und rationalisiert; dabei entstehen eine Arbeitszeitverdichtung und ein Zeitstress bisher unbekannten Ausmaßes. Lebensbedingungen werden dadurch geprägt, psychosoziale Belastungen sind die Folgen (Rosa 2005; 2009).

Zugleich findet eine seit Jahren zunehmende Individualisierung der Lebensverhältnisse statt (Beck 1986; 2008), die zu einer noch stärkeren Herauslösung aus sozialen Bindungen und somit zur Vereinzelung und auch zur Isolation führen. Den darin angelegten größeren Optionen individueller Freiheit stehen zugleich auch größere Möglichkeiten des Scheiterns gegenüber. Offenkundig wird zudem das für moderne Lebensverhältnisse typische „Autonomiestreben, das Ideal einer von materiell und ökonomischen Zwängen unabhängigen, selbstbestimmten Lebensführung" in sich verschärfender Form frustriert, auf der Eben der politischen Gestaltung und auf der Ebene des individuellen Lebensvollzugs (Rosa 2009, 115). Damit einher geht eine wachsende Auflösung der Normalbiographien und schafft Raum für eine steigende Diskontinuität sowie einer zunehmenden Verflüssigung von Lebenswegen.  Dies führt in seiner Konsequenz dazu, dass biographische Erwartbarkeit schwindet.

Harmut Rosa fasst seine Analyse in einem Satz zusammen, der als Ausgangspunkt der Sorge und der Erschöpfung in der Moderne zu sehen ist: „ Wenn wir an den für die moderne Marktwirtschaft und die moderne Demokratie grundlegenden Maßstäben der Autonomie (und der Authentizität) festhalten wollen, dann verursacht das kapitalistische Wirtschafts- und Beschleunigungssystem schwerwiegende Pathologien wachsenden Ausmaßes" (Rosa 2009, 93). Es sind die Leidenserfahrungen und Sorgen der Subjekte, die den Diagnosen ihre Kriterien liefern: die „Subjekte wachen auf aus Sorge, nicht mehr mitzukommen, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein, die Aufgabenlast nicht mehr bewältigen zu können, abgehängt zu werden – oder in der erdrückenden Gewissheit (etwa als Arbeitslose oder Ausbildungsabbrecher) bereits abgehängt zu sein" (Rosa 2009, 118).

Die Sorgen wachsen, die Moderne steigert und beschleunigt die Verwundbarkeit der Subjekte. Darin kehren auch die mit dem Begriff der „Wohlstandskonflikte" diskutierten Ängste der Mittelklassen zurück bzw. werden erklärbar: „Erworbene soziale und berufliche Positionen verlieren an Stabilität und Gewissheit. Die mittleren Lagen der Gesellschaft, die Facharbeiter, Techniker und Ingenieure in der industriellen Fertigung bzw. in industrienahen Dienstleistungen, aber auch die Fachangestellten in der Wohlfahrtspflege und der öffentlichen Verwaltung sehen sich mit neuen sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Gefährdungen konfrontiert." (Vogel 2009b, 9) Zugleich wird Soziale Ungleichheit drängender und bedrohlicher, letztlich kann Beschleunigung über Verwundbarkeit zur Erschöpfung führen.
 
Soziale Verwundbarkeit
Sich verfestigende Ungleichheit und Drohungen mit Armut, die aus sozialen und ökonomischen Hintergründen resultieren, will ich in ihren kulturellen Folgen und Konsequenzen für das individuelle Leben als soziale Verwundbarkeiten diskutieren. Mit diesem Begriff sollen über die vorwiegend sozioökonomisch geführte Armutsdebatte hinaus vielfältige Bedrohungen analysiert werden, die auf den Subjekten in einer sich grundlegend verändernden Moderne lasten. Soziale Ungleichheit resultiert in ihren Folgen, neben den klassischen Kontexten, immer mehr, insbesondere in einer Moderne, die auf die Autonomie des Subjektes setzt und zugleich auf diese angewiesen ist, auch aus den Fähigkeiten bzw. den eingeschränkten oder gar zerstörten Möglichkeiten sich steigernden Belastungen aktiv zu begegnen, sie in eigener Zuständigkeit klein zu arbeiten und sie dabei auch zu bewältigen.

Soziale Verwundbarkeit kann und darf aber nicht mit dem eigentlich engen Begriff von Armut verglichen werden, der in der Ungleichheitsforschung bereit steht und sich im Wesentlichen auf Unterversorgung im Einkommen, auf dem Arbeitsmarkt und in Bildungsprozessen bezieht. Er soll diesen auch nicht ersetzen. Doch in der erforderlichen Betrachtung der soziokulturellen Folgen von Armut hilft ein begriffliches Verstehen dieser Situation als Unterversorgung und relative Armut nur bedingt. Soziale Verwundbarkeit ist zwar im Zusammenhang  realer Armut zu sehen, die in ihren Folgen als Benachteiligung, als Ausgrenzung, als Sich-Einrichten, als eine Kultur der Armut und als soziale Erschöpfung zu erkenn ist.

Doch soziale Verwundbarkeit meint mehr und ist umfassender, sie ermöglicht erst den Blick auf die soziale Erschöpfung, die sich als individuelles Handeln, als Verhaltensmuster und auch als Leiden darstellt. Soziale Verwundbarkeit soll als ein Komplex von ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedrohungen begriffen werden, die auf Subjekten und deren Gruppierungen lasten; aus sozioökonomischer Ungleichverteilung von Gütern und Möglichkeiten entsteht in den alltäglichen Konsequenzen und ihren individuellen Folgen ein Kontinuum der Ungleichverteilung von Verwirklichungschancen, die zur Bewältigung alltäglicher Gestaltungs- und Bewältigungsprozessen erforderlich sind. Je geringer die Möglichkeiten zur Bewältigung des Alltags, seiner Pflichte, Lasten, Freuden und Herausforderungen sind, je weniger aus erkennbaren Möglichkeiten reale Wirklichkeiten, desto höher und  in seinen Auswirkungen dramatischer ist der Grad der Verwundbarkeit.

So aber resultiert soziale Verwundbarkeit zum einen aus den klassischen Kontexten der Unterversorgungslagen beim Einkommen, bei dem Zugang zum Arbeitsmarkt, bei den Bildungschancen, beim Wohnraum und im Gesundheitssystem  sowie aus Ungleichheitskategorien wie Partizipation, Geschlecht, Alter, Region und den Konsequenzen eines Migrationshintergrundes. Sie ergibt sich zum anderen aber auch aus neueren und kulturellen Kontexten, die ebenfalls ungleich verteilt sind, wie Resilienz, Flexibilität, Mobilität, Familie, Gemeinschaft, Religiosität, Netzwerke, Brückenkapital, Alltagsgestaltung, kulturelle Aktivität, Zukunftsorientierung, Werteorientierung, Bildungsaspiration und den Fähigkeiten (capabilities), sein eigener Agent zu sein, die Zumutungen des Autonomieversprechens und der Autonomieerwartungen in der Moderne auch leben zu können.
Soziale Erschöpfung und erschöpfte Familien

Alain Ehrenberg weist darauf hin, dass Depression und ihre Vorstufen eine „Krankheit der Verantwortung" seien, die Betroffenen seien nicht voll auf der Höhe, da sie erschöpft davon seien selbst zu werden (Ehrenberg 2008, 15). Er zeigt aber auch, dass diese ihre Ursache in Prozessen, Strukturen, Bildern und Mustern haben, die auf dem Subjekt in der Moderne lasten. Dem zugrunde liegt jener Paradigmenwechsel in der gesellschaftlichen Konstruktion des Subjektes, den Charles Taylor so treffend beschrieben hat, dass nämlich das Individuum nicht mehr an seiner Gefügigkeit und seiner Unterordnung sondern an seiner Initiative gemessen werde. Ehrenberg sagt dazu, dass die demokratische Moderne uns zu Menschen „ohne Führer" gemacht und damit in eine Situation versetzt habe, selbst zu entscheiden und eine eigene Orientierung zu konstruieren: "Wir sind reine Individuen geworden, und zwar in dem Sinne, dass uns kein moralisches Gesetz und keine Tradition sagt, wer wir zu sein haben und wie wir uns verhalten müssen" (Ehrenberg 2008, 18).

In uns modernen Menschen hat sich der Glaube als Gewissheit und Zumutung eingenistet, dass jeder die Möglichkeit haben sollte, selbst zu sein, die eigene Geschichte zu schreiben und nicht mehr das Leben schicksalhaft zu erleiden. Ein gutes Leben, und darauf verweist Rosa, besteht für die Subjekte in der modernen Gegenwartsgesellschaft vor allem aus der Idee, ihr eigenes Maß, ihre individuelle Weise des Menschseins zu finden und zu gestalten (Rosa 2005). Das ist sicherlich ein hoher Gewinn an Autonomie, doch es steigert auch die Chance des individuellen Scheiterns.

Aus diesen Zumutungen kann Erschöpfung und schließlich Depression resultieren, eben jene Krankheit der Verantwortung, die zu einem Ertragen des Schicksals und  zu einem Sich-Arrangieren in Prekarität und Ausgrenzung führen kann. Dies nimmt dann zu, wenn Individualisierungsprozesse, Beschleunigungsprozesse und politische Aktivierungsprozesse, verbunden mit einer zunehmend sich polarisierenden Ungleichverteilung sozialer und ökonomischer Ressourcen (Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu), Druck auf die Subjekte ausüben, wie es in den Gegenwartsanalysen der Soziologie vielfach beschrieben wird (Dörre, Lessenich, Rosa 2009). Erschöpfung ist letztlich eine erzwungene Reaktionen von Menschen, die auf Grund einer besonderen und erhöhten Verwundbarkeit – fehlende Ressourcen etc. - den sich stetig verändernden, verschärfenden und beschleunigenden Zumutungen der Moderne nicht gestaltend begegnen können und eigentlich Unterstützung benötigten. Sie „ergeben" sich ihrem „Schicksal".

Damit ist die Debatte aber weit davon entfernt Erschöpfung zu pathologisieren und diese als individuelle Schuld und Versagen zu zeichnen; sie ist die Konstruktion einer Gesellschaft, die verstärkt auf individuelle Verantwortung setzt und Menschen darin überfordert. Sie ist eine sozial und kulturell konstruierte Reaktion, die sich allerdings in spezifischen und individuellen Verhaltensmustern niederschlägt. Diese sind zwar als eigenständige Handlungen zu verstehen, die in ihrer Summe aber zusätzliche Auswirkungen auf die Strukturen haben, in denen Menschen leben, und dazu beitragen, dass deren ohnehin eingeschränkte Teilhabechancen zusätzlich verengt werden, bis hin zum Sich-Einrichten in einer Kultur der Armut.

Soziale Erschöpfung ist eine soziale Situation, in der Menschen zwar noch initiativ sind, aber nicht im Sinne von Teilhabe, Reflektion und Gestaltung sondern lediglich hinsichtlich eines alltäglichen Kampfes die Zumutungen des Alltags einigermaßen zu bewältigen. Der Blick auf die Zukunft fehlt, da die Gegenwart übermächtig wird. Der oder die sozial Erschöpfte verharrt, und dieses Bild übernehme ich aus Ehrenbergs Zeichnung der Depression, in einer Form der Verlangsamung, in einer Zeit ohne morgen, er oder sie verfügt kaum noch über Energie und verschließt sich in einem Zustand des „Nichts-ist-möglich" (Ehrenberg 2008).

Formen sozialer Erschöpfung, die ich vor allem im Kontext von Familien diskutiere, zeigen sich als ein von verwundbaren Menschen vielfach erlebtes Drama der Unzulänglichkeit, des Scheiterns und der Einsamkeit, da Unterstützung Mangelware ist; man ist müde selbst zu sein und unterwirft sich letztlich den verfügbaren Mustern des Sich-Einrichtens. Ihnen fehlt dann aber die Macht (die Ressourcen) sich für dieses oder jenes zu entscheiden (Ehrenberg 2008, 269). Erschöpfung wird zur Kehrseite des Menschen, der in den Aktivierungszumutungen der Politik das Ideal ist; damit ist allerdings, und das sei erwähnt, moralisierenden Interpretationen ein weites Tor geöffnet .

Diese soziale Erschöpfung zeigt sich in den von mir vielfach beschriebenen „erschöpften Familien" und verdichtet sowie tradiert sich in Kulturen der Armut, die insbesondere Folgen für die Entwicklungschancen der Kinder haben (Lutz 2010). So richtet sich der Blick auf Menschen in familiären Situationen, die dem Tempo und den Zumutungen der Gesellschaft nicht mehr folgen können. Es sind Menschen, die durch vielfältige Formen der Entmutigung, hervor gerufen durch eine höhere Verwundbarkeit, Verunsicherung, Statusverluste, Armut und dauerhafte Belastungen, immer weniger in der Lage sind, ihre alltäglichen Verrichtungen eigenständig, sinnvoll und nachhaltig zu organisieren.

Literatur
Beck, Ulrich / Poferl, Angelika (Hg.): Große Armut, großer Reichtum, Frankfurt am Main 2010
Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut: Soziologie - Kapitalismus - Kritik: Eine Debatte, Frankfurt am Main 2009
Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst, Frankfurt am Main 2008
Lutz, Ronald: Kinderarmut. Eine sozialpolitische Herausforderung, Oldenburg 2010 (2010)
Lutz, Ronald : Erschöpfte Familien, in: Soziale Arbeit 6.2010, S. 234-240 (2010c)
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung von Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005
Vogel, B.: Wohlstandskonflikte. Soziale Frage, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009a
Vogel, B.: Minusvisionen in der Mittelklasse. Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand als Leitbegriffe neuer sozialer Ungleichheiten, in: WIDERSPRÜCHE. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 111, 29. Jg. 2009 Nr. 1, S. 9-18 Hamburg 2009b


Letzte Aktualisierung dieser Seite: 19.12.2011 (s. admin)