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Europa

Zum Beispiel: Hamburg
(Meent Adden, Gaby Hoppe)
 

St. Georg

Anhand von Experteninterviews wurde im Zeitraum von Dezember 1995 bis Januar 1996 die Situation am Hamburger Hauptbahnhof mit angrenzendem Stadtteil St. Georg sowie der Stadtteil St. Pauli beleuchtet. Hierzu wurden folgende Ergebnisse veröffentlicht:

Nach Schätzungen der Experten lag zum damaligen Zeitpunkt die Größe der Gruppe von Jugendlichen zwischen 50 und 200 Personen. Das Durchschnittsalter dieser Gruppe am Hauptbahnhof wurde von mehreren Interviewten mit 15-17 Jahren angegeben. Kinder unter dem 14. Lebensjahr wurden selten angetroffen. Insgesamt ergab eine Zählung der BHH (Betreuungsgesellschaft Hauptbahnhof) in dem Zeitraum vom 03. bis 12. März 1995, dass sich Gruppen mit den Merkmalen „Drogenabhängige/Stricher/Prostituierte" sowie „Dealer/Streetkids/Andere" in einer Größenordnung von N=1.858 Personen in den o.g. Zeitraum aufhielten. Die Kriterien, nach denen diese beiden Gruppen gebildet wurden, ließen sich nicht rekonstruieren, ebenfalls undifferenziert waren die Altersgruppen. Somit lässt die durchgeführte Zählung nur wenige Rückschlüsse auf den Anteil von Jugendlichen in dieser Gesamtgruppe zu (Institut für soziale Arbeit: Lebensort Straße, S. 116). Gleichwohl lassen sich aus diesen Kategorisierungen Rückschlüsse über die vorliegenden Problemlagen ziehen.

Der Hauptbahnhof, insbesondere der Hachmannplatz, spielt seit Anfang der neunziger Jahre eine entscheidende Rolle als zentraler Treffpunkt für Jugendliche und Jungerwachsene, die harte Drogen konsumieren (z.B. Heroin, Benzodiazepine etc.). Der Handel mit Drogen wurde nach Einschätzung der Experten damals meist von minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen organisiert. Die befragten Experten wiesen darauf hin, dass es eine enge Verflechtung mit den Bereichen Drogenkonsum, Prostitution und kriminellen Delikten gibt. Hinsichtlich der Prostitutionsszene führten die Experten/innen an, dass es drei Verhaltensformen der Prostitution gibt:

· Prostitutionskontakte von Jungen und jungen Männern zu Männern;

· Kontakte von männlichen Kindern und Jugendlichen zu Päderasten;

· Prostitutionskontakte von Mädchen und jungen Frauen zu Männern.

Aus den Schilderungen der Interviewten lässt sich schließen, das weibliche Prostituierte nicht direkt zum Hauptbahnhof kamen, um sich zu prostituieren, sondern um an dem dortigen Szeneleben teilzunehmen und die Versorgungsangebote (Grundversorgung der am Bahnhof vorhandenen Einrichtungen) wahrzunehmen. Die Prostitution der jungen Frauen fand im angrenzenden Stadtteil St. Georg statt. Im Gegensatz dazu fand die Prostitution der männlichen Szeneangehörigen eher verdeckt am Bahnhofsvorplatz statt (ebd.: S.119-120).

Zu den weiteren Gruppen, die sich zu diesem Zeitpunkt am Hauptbahnhof aufhielten, zählten nach Angaben der Interviewten die jugendlichen Migranten/innen der zweiten und dritten Migranten/innengeneration sowie die darunter subsumierten Gruppen der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, die in Hamburg einen Asylantrag gestellt haben.

Der Hauptanteil der deutschen Kinder und Jugendlichen, die sich in der Szene rund um den Hauptbahnhof aufhielten, stammten zum Befragungszeitraum aus Hamburg. Der Anteil aus Hamburger Jugendhilfeeinrichtungen wurde laut Experten/innen auf 30 % bis 50 % geschätzt (ebd.: S. 121).

Stadteilszene St. Pauli
Auch im Stadtteil St. Pauli ließen sich anhand der Experten/innenbefragung unterschiedliche Gruppen und Szenen identifizieren. Über den Umfang der einzelnen Szenen ließen sich nach Angaben der Interviewten keine genauen Zahlen finden. Eine Einrichtung der offenen Kinder- und Jugendarbeit bezifferte ihre tägliche Frequentierung mit durchschnittlich 72 Kindern und Jugendlichen. Eine andere Einrichtung, die mit Punks und Drogenabhängigen arbeitete, bezifferte ihre tägliche Besucherzahl mit 30 bis 50 Personen. Die Experten/innen gaben an, dass es sich bei den Streetpunks um junge Menschen handelte, die überwiegend nicht aus Hamburg kamen. Die Streetpunks sind männliche Jungerwachsene im Alter von 18 bis 27 Jahre mit einem Durchschnittsalter bei 20 bis 22 Jahren. Diese sind nach Auffassung der Interviewten nicht langfristig an dem Stadtteil gebunden. Die Aufenthaltsdauer betrug in der Regel bis zu zwei Jahren. Exzessiver Alkoholkonsum sowie die Einnahme von Designerdrogen seien in dieser Szene weit verbreitet (ebd.: S 123).

Die Drogenszene im Stadtteil unterschied sich hinsichtlich der Lebensbedingungen nicht grundlegend von der am Hauptbahnhof. Die Angehörigen nutzen die vor Ort vorhandenen Hilfeeinrichtungen. Sowohl bei den Punks als auch bei den Drogenkonsumenten/innen wurden Kinder nicht erwähnt. Dies bezog sich hauptsächlich auf so genannte harte Drogen (Heroin, Kokain, Benzodiazepine). Für die Kinder und Jugendlichen, die aus dem Stadtteil kamen, spielten nach Ansicht der Experten/innen Alkohol und Cannabis eine Rolle.

Insgesamt waren die Lebensbedingungen in St. Pauli laut Experten/innen geprägt von Arbeitslosigkeit, Sozialhilfeabhängigkeit und Alkoholproblemen der Eltern.

Folgende Trends und Veränderungen wurden in der Untersuchung von den Experten/innen im Stadtteil und am Hauptbahnhof genannt:

· Die Zahl der Jugendlichen auf der Straße steige bedingt durch die Verarmung in den Familien in den Stadtteilen und die geringe berufliche Qualifikation an.

· Immer mehr Jugendliche fielen aus dem Jugendhilfesystem heraus und würden auf der Straße landen.

· Die Kinder und Jugendlichen auf der Straße würden immer jünger.

· Die Gewalt zwischen den Jugendlichen nehme zu.

· Das Drogenkonsumverhalten am Hauptbahnhof verändere sich. Heroin würde weniger intravenös gespritzt, Designerdrogen in Tablettenform umso mehr konsumiert.

Entwicklungen seit 1996 in der Region St. Georg/ Hauptbahnhof und St. Pauli

Seit 1996 gilt in Hamburg das Sicherheits- und Ordnungsgesetz. Dieses wurde aufgrund der Tatsache eingeführt, dass es in der Region um den Hauptbahnhof zu einer massiven Szenenbildung kam. Durch eine höhere Streifendichte und Erteilen von Platzverweisen sollte die Szene am Hamburger Hauptbahnhof gestört werden. Dies führte dazu, dass die Drogenszene in andere Stadtteile abwanderte. Gleiches galt für einen Teil der Jugendlichen, die sich in dieser Region aufhielten. Vor der Bürgerschaftswahl 2001 wurde direkt am Hauptbahnhof eine Sicherheitswache eingerichtet, die von der Polizei als auch von Sicherheits- und Ordnungsdiensten genutzt wurde. Durch den Regierungswechsel (CDU/FDP/Schill-Partei) wurde der Druck auf die Szene stark erhöht, was zu weiteren Abwanderungstendenzen führte.

Fast zeitgleich mit der Einführung der SOG gab es innerhalb der Drogenszene eine zunehmende Trendwende im Bereich der Substanzen. Lag die Prävalenz in den Jahren zuvor bei Heroin und diversen Medikamenten (z.B. Benzodiazepine), wurde im Verlauf der zweiten Hälfte der neunziger Jahre im zunehmenden Maße Crack geraucht und Kokain intravenös konsumiert.

Mit dem Regierungswechsel in Hamburg kam es ab 2002 zu Kürzungen bei Einrichtungen im Hamburger Stadtgebiet. Hierdurch wurde die Hilfelandschaft sehr verändert. So wurden einige Einrichtungen um 50 % gekürzt, andere Angebote wie z.B. die Straßensozialarbeit St. Pauli (eine der Einrichtungen, deren Mitarbeiter/innen in den o.g. Abschnitt als Experten/innen interviewt wurden) stellten ihre Angebote aufgrund der Kürzungen endgültig ein. Dabei weist gerade dieser Stadtteil erhebliche Gefährdungslagen auf. Im Bereich des Spielbudenplatzes sammeln sich an den Wochenenden die unterschiedlichen Jugendgruppen. Sehr oft kommt es hier zu heftigen Auseinandersetzungen untereinander, teilweise bedingt durch massiven Kontrollverlust durch Drogen (Ecstasy, Amphetamine und andere Substanzen) und Alkohol. Daher gilt auf der Reeperbahn ein strenges Waffenverbot. Getränke aller Art dürfen an Kiosken nur in Dosen verkauft werden, weil die Flaschen häufig als Waffen verwendet werden.

Diese Faktoren führten dazu, dass an anderen Orten der Stadt neue Szenen entstanden und sich neue Streetwork-Angebote neu konzipieren mussten. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Arbeit mit Jugendlichen in besonderen Problem- und Lebenslagen. Nach wie vor spielt der Hamburger Hauptbahnhof eine zentrale Rolle als Treffpunkt für unterschiedliche Gruppen junger Menschen, dennoch treffen sich viele auch in anderen Stadteilen wie z.B. in St. Pauli.

(Aus: „Draußen und anderswo", Meent Adden, Standort Hamburg, Jahresbericht 2008. Zur Situation von Straßenkindern in Deutschland, S. 9-12.)

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 20.09.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |