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Bedrohte Kindheiten

 
 
Gamines, Bogotá ca. 1925
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Gamines in Bogotá, ca. 1925
  

"Straßenkinder" in der Geschichte
(Hartwig Weber, November 2010)

 Inhalt

Quellen
Ursachen
Milieus der Armut
Bettelei und Kriminalität
Bettlerbanden, Bettelstrategien
Krankheiten
Maßnahmen von Obrigkeit und Kirche
Spitäler, Waisenhäuser, Findelhäuser, Arbeitshäuser
Bildung
Literatur


Das Phänomen obdachloser Kinder, die ihr Elternhaus verlassen haben und auf der Straße herumstreunen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ist älter als der Begriff "Straßenkinder". Es reicht wahrscheinlich viel weiter zurück als die ältesten Quellen, die davon Kunde geben. Die unmittelbaren Vorläufer der heutigen Kinder und Jugendlichen der Straße, von denen wir uns ein einigermaßen klares Bild machen können, sind die Bettler- und Vagantenkinder des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Der Vergleich zwischen der damaligen und der heutigen Lebenssituation von Straßenkindern zeigt erstaunliche Parallelen im Detail.

Bettelkinder sind Minderjährige unter 14 Jahren. Darunter fallen (1.) vagierende (unbehauste) Kinder mit oder ohne Familie; (2.) Kinder, die bei einem Elternteil lebten und zeitweilig oder beständig bettelten, und (3.) Minderjährige in Familien mit Vater und Mutter, die hin und wieder bettelten. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Lebensumstände. Die Eltern der Bettelkinder waren durchweg verarmt, soziale Absteiger, Kranke, Blinde, Krüppel und "Unehrliche". Häufig waren die Familien im Elend auseinandergebrochen. Nicht selten hört man von Stiefelternteilen, die die ihnen fremden Sprösslinge so schlecht behandelten, dass sie das Weite suchten.

Im 17. und 18. Jahrhundert war der Kinderbettel ein Massenphänomen und artete in manchen Städten und Regionen zu einer regelrechten Plage aus. Mitunter zogen Hunderte von Kindern durch die Straßen mit Brotkörben und Almosenbüchsen. Kinderarbeit und Kinderbettel gingen Hand in Hand und waren nicht scharf voneinander zu trennen. Die wenigsten Bettelkinder hatten eine Schule besucht, kaum eines konnte lesen und schreiben.

Ein lebendiges Bild der bettelnden Kinder in der Zeit des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit vermitteln insbesondere die Forschungen von Helmut Bräuer: Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800, Leipzig 2010 (auf dieses Buch bezieht sich der unten stehende Artikel im Wesentlichen); vgl. auch Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, Frankfurt am Main 2000 und Markus Meumann: Unversorgte Kinder. Armenfürsorge und Waisenhausgründungen im 17. und 18. jahrhundert, in: Udo Sträter u.a. (Hg.): Waisenhäuser in der frühen Neuzeit, Halle und Tübingen 2003, S. 1ff.

Quellen
Der Quellenbestand zum Phänomen bettelnder Kinder im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ist schmal und einseitig. Er stammt hauptsächlich aus dem Armuts-, Almosen-, Fürsorge und Ordnungswesen und enthält meist nur am Rande auch Informationen über bettelnde Kinder. Die Gesellschaft erlebte das Bettelwesen als Gefahr, der sie mit Exklusion begegnete. Gegen Vaganten, Zigeuner und andere Störenfriede ergriff sie teilweise rigide Maßnahmen, machte aber auch Angebote der Inklusion für in ihrem Sinne Gutwillige. Es wurden Beherbergungs- und Aufenthaltsregelungen erlassen und Häuser für die Betroffenen, zumal für Kinder, eingerichtet. Empfehlungen und Anregungen, wie die Räte der Städte angesichts des überhand nehmenden Armen- und Bettlerproblems vorgehen sollten, verfassten im 15. und 16. Jahrhundert u.a. Geiler von Kaysersberg, Martin Bucer, Martin Luther und Ignatius von Loyola. Die Polizeiordnungen, die daraufhin erlassen wurden, bestimmten, dass Bettelkinder zu Handwerkern in die Lehre, zu Bauern in die Feldarbeit oder in den Soldatenstand gegeben werden sollten. Dort mussten sie ihren Unterhalt selbst verdienen. Den Eltern wurde verboten, ihre Kinder zum Betteln auf die Straße zu schicken.

Das Konzept zur Bekämpfung des Kinderbettels, "des größten Uebels in der menschlichen Gesellschaft", das sich seit dem Ausgang des Spätmittelalters herausbildete, hieß dienende Arbeit. Dabei hatte man keinen Blick für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen des Problems. Armut und Bettelei galten als persönliche Fehler und Folge von Eitelkeit, Lüsternheit und der Neigung zu kriminellen Handlungen. Statt Wohltätigkeit war Strafe angesagt. Die Programme, die die Obrigkeiten erließen, ordneten Erziehung zum Gottesglauben, Kirchenzucht, Fleiß, Untertänigkeit und Wohlverhalten an.

Die Quellen, die hiervon Kenntnis geben, spiegeln nicht die ganze Wirklichkeit wider; meist handeln sie von Überschreitungen der Gesetze und von Normverstößen. Direkte authentische Überlieferungen von Betroffenen finden sich nur sehr selten, etwa in Akten von Prozessen gegen Bettelkinder und Kinderhexen, deren Äußerungen dort bisweilen wörtlich zitiert werden. Kinder sprechen immer nur über Erwachsene zu uns.

Ursachen
Massen von Bettlern gab es seit dem Ausgang des Mittelalters überall in Mitteleuropa; sie waren allgegenwärtig auf dem Land, besonders aber in den Städten, zum Beispiel in Lyon, Venedig, Stockholm, Basel. Unzählige sah man in Österreich, aber auch in Böhmen und Polen. Die Bettelkinder, die oft von den eigenen Eltern auf die Straße geschickt wurden, entstammten durchweg dem Armutsmilieu. Sie strömten aus dem ganzen Land herbei und sammelten sich dort, wo sie auf milde Gaben hoffen konnten, vornehmlich an den Residenzorten, die sich zu regelrechten Kinderbettlerzentren entwickelten. Auf den Landstraßen waren Kinder alleine, mit ihren Eltern oder in Gruppen unterwegs und mischten sich unter die anderen Ausgewiesenen und Verjagten. Bisweilen wurden auf einen Schlag Hunderte von ihnen aufgegriffen.

Die Misere verarmter Eltern setzte sich gewöhnlich in der folgenden Generation fort, wenn die Kinder das Lebensmuster ihrer Vorfahren weiter führten. Hungersnöte, Dürren, Unwetter und Seuchen vertieften das Elend. Infolge der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges lungerten Kinder und Jugendliche in Scharen auf den Straßen herum, ohne Nahrung und Dach über dem Kopf. Die zahlreichen Kriege vergrößerten die Anzahl der Witwen und Waisen.

Im 18. Jahrhundert begann man, die hauptsächliche Ursache der Verarmung in mangelnder Bildung der Unterschichten zu sehen. Fortan galt Pädagogik als Schlüssel zur Weltverbesserung. Im Zeichen christlicher Bildung wurden mehr und mehr Waisen-, Zucht- und Arbeitshäuser eröffnet.

Milieus der Armut
Im Spätmittelalter und zu Beginn der Neuzeit war Betteln kurzfristig erlaubt, blieb aber an bestimmte Bedingungen geknüpft (Bettelzeichen, Beherrschung von Glaubensübungen). Kirchlich nicht sanktionierter Bettel war illegal. Später wurde die Bettelei zusehends kriminalisiert.

Alleinstehende, verwahrloste und bettelnde Kinder, deren primäres Anliegen darin bestand, Nahrung zu beschaffen und einen einigermaßen sicheren Schlafplatz für die Nacht zu finden und zu organisieren, gehörten im 18. Jahrhundert zum Straßenbild. Der Bevölkerung galten diese Kinder als Feinde. Bisweilen waren es die Eltern selbst, die ihre Kinder auf die Straße schickten und erfolgreiche Ergebnisse einforderten. In anderen Fällen ergriffen Kinder die Initiative. Viele lebten weiterhin im Haus ihrer Eltern, andere verließen ihre Familien und kehrten auch nachts nicht mehr zurück. Nicht selten waren Geschwister gemeinsam unterwegs. Häufig bildeten sich geschlechtergemischte Gruppen von Bettlern.

Bettelkinder entstammten durchweg dem typischen Arme-Leute-Milieu. Ihre Eltern gehörten zur gering qualifizierten Unterschichtbevölkerung, die Väter waren Taglöhner, Diener, Knechte und hatten meist kein gesichertes Einkommen. Hinzu kamen invalide und entlassene Soldaten und verarmtes Hofpersonal in den Residenzstädten. Oft waren die Familien in Kriegzeiten aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden und schlugen sich hinfort ohne Wohnerlaubnis, ohne Bürger- und Schutzrechte durch. Die Verhältnisse zwangen zur Beschaffungsbettelei und -kriminalität.

Betteln und gelegentliches Arbeiten auf der Straße gingen Hand in Hand. Naturgemäß bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit der Eltern und der dadurch veranlasstem Straßenarbeit oder dem Bettel der Kinder, der als Ersatz für die entfallende Arbeitsleistung der Eltern herhalten musste. Manche Familien waren so arm, dass ihnen nichts übrig blieb, als ihre Kinder wegzuschicken, sie wegzugeben, zu verschenken oder "auszuleihen". Weggabe war eine im Bettelmilieu verbreitete, freundlichere Alternative zur Kindestötung oder Aussetzung. Die Eltern erzielten dadurch nicht nur einen Gewinn, darüber hinaus bestand der Vorteil, dass ein Esser weniger zu versorgen war. Die verkauften Kinder dienten behinderten Bettlern beim Eintreiben von Almosen; Kleinkinder sollten die Mildtätigen zur Barmherzigkeit rühren. Mit der Zeit wurden die ausgeliehenen Kinder zu Experten der Bettelei und Kriminalität, denen sie oft lebenslang verbunden blieben.

Von der Weggabe schon im Säuglingsalter waren besonders außerehelich geborene Kinder betroffen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts nahm die Zahl der Aussetzungen sprunghaft zu. Mitte des 19. Jahrhunderts sollen in Europa 100 000 Findelkinder pro Jahr aufgegriffen worden sein. Ihre Anzahl war in römisch-katholischen Regionen größer als in protestantischen Gegenden. In Krisenzeiten sprangen die Aufnahmen in den Findelhäusern bisweilen auf das Drei- bis Fünffache (vgl. Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, Frankfurt am Main 2000). Nicht selten wurden Aussetzungen erst vorgenommen, als die Kinder schon zwei, drei oder vier Jahre alt waren. Die in den Findelhäusern Aufgenommenen erwartete, wenn sie dort überhaupt überlebten, ein Dasein am Rand der Gesellschaft, nur die allerwenigsten schafften es, später Handwerker zu werden.

Bettelei und Kriminalität
Der Übergang von der Bettelei zur Kriminalität war naturgemäß fließend und von situativen Gegebenheiten abhängig. Bettelei galt deshalb schon seit dem Ausgang des Mittelalters als ein strafwürdiges Delikt. An Umfang scheint der "betrügerische Bettel" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark zugenommen zu haben. Dies hing mit dem allgemeinen Rückgang der Spendenbereitschaft zusammen. Zur Beschaffungskriminalität gab es angesichts der herrschenden Not keine Alternative. Die Kinder stahlen einzeln, im Duo oder im Gruppenverband. Zum Verkauf des Diebesguts waren sie auf die Hilfe von erwachsenen Hehlern angewiesen. Das Unwesen provozierte scharfe Gegenmaßnahmen der Obrigkeiten. Wenn Kinder bei Diebstählen erwischt wurden, versuchten sie sich vor drakonischen Strafen zu retten, indem sie auf die Einmaligkeit ihres Vergehens, die herrschende Not und ihren schrecklichen Hunger verwiesen.

Bettlerbanden, Bettelstrategien
Um die Überlebenschancen zu erhöhen und sich untereinander beistehen zu können, bildeten erwachsene Bettler, aber auch Kinder und Jugendliche, Banden, in denen die notwendigen Maßnahmen und fälligen Entscheidungen kollektiv abgestimmt wurden. Oft ging die Bildung einer "Companie" aus einer Geschwistergruppe hervor. Innerhalb der Banden gab es naturgemäß häufig Streit, Rivalitäten mussten ausgetragen, Konkurrenzkämpfe bewältigt werden. Wichtiger war, dass man gemeinsam stärker war, sich in Notfällen half, Kranke und Behinderte versorgte. In der Regel stand einer Bande ein Führer vor, der sich durch besondere körperliche und geistige Fähigkeiten hervortat. Die Gruppen waren streng hierarchisch organisiert und orientierten sich an selbst erlassenen, strengen Gesetzen. Durch Zusammenhalt und eingeübtes Zusammenspiel fielen Bettel und Kriminalität viel effektiver aus. Bettlergruppen gab es in den Städten, aber auch auf dem Land. Ihre Aufenthaltsorte waren zum Beispiel leere Ställe, Scheunen, Hausdurchgänge, Ziegeleiöfen, Unterstellplätze für Reisewagen und Kutschen oder einfach nur ein Misthaufen. Aber trotz Vorsorge kam es immer wieder dazu, dass Bettelkinder nachts erfroren.

Krankheiten
Das harte, entbehrungsreiche Leben der Bettelkinder verursachte viele und schwere Krankheiten. In ihrem Leben war der Tod ein ständiger Begleiter. Die meisten waren bereits wegen des Elends im Elterhaus seit frühester Kindheit geschwächt. Mit dem Mangel an Nahrung ging ein Defizit an Fürsorge und Zuwendung von Mutter und Vater einher. Viele Kinder waren behindert, zum Teil hatten ihnen die eigenen Eltern Verkrüppelungen beigebracht, um die Effektivität des Bettelns zu erhöhen. Ein Drittel der Bettelkinder soll körperlich oder geistig behindert gewesen sein. Hunger und Not hatten sie ausgezehrt. So wurden sie eine leichte Beute von Infektionen oder Hautkrankheiten und bevorzugte Opfer von Seuchen wie Pest, Pocken, Typhus oder Lepra.

Maßnahmen von Obrigkeiten und Kirchen
Die Obrigkeiten reagierten auf die überhand nehmende Bettelei mit einer Strategie der Scheidung: Die Armen wurden in zwei Gruppen eingeteilt, in Würdige und Unwürdige. Erstere galten, weil arbeitswillig und unverschuldet ins Elend geraten, als der Unterstützung würdig; die andere Kategorie setzte sich aus arbeitsscheuen und faulen Bettlern und Kriminellen zusammen, denen gegenüber Fürsorge und Barmherzigkeit als unangebracht erschienen. Zu dieser Gruppe gehörten vornehmlich die "unterschiedlichen frembden Teutschen / und Welschen Bettlern / Gard-Knechten / Keßlern / abgedanckten Soldaten / Zigeuner / Jauner / und Rauber-Gesinds" (Liechtensteinische Polizei und Landesordnung von 1732, zitiert von Helmut Bräuer: Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800, Leipzig 2010, S. 39). Die förderungswürdigen Kinder sollten wenn möglich bei Handwerkern in Dienst gegeben werden oder bei Bauern so lange arbeiten, bis sie sich selbst ernähren konnten.

Die Obrigkeiten versuchten, den Kinderbettel durch drakonische Strafen, Auspeitschen und Markierungen am Körper mit Brandzeichen einzudämmen. Bettelkinder, die man ergreifen konnte, mussten entehrende Arbeiten leisten, Unrat beseitigen, Latrinen säubern. Andere wurden über die Grenzen der eigenen Herrschaft hinausgetrieben. So versuchte man, vor der Bettelei abzuschrecken.

Die Obrigkeiten ergriffen, wenn die Bettelpage überhand zu nehmen drohte, umfassende Maßnahen zur Aufspürung, zum Einfangen und Abschieben der Vaganten, Kriminellen, Zigeuner und Bettler, unter denen sich auch zahlreiche Kinder befanden. Die ausgesendeten Häscher waren oft ausgemusterte und invalide Soldaten, die zu Gassenmeistern, Torknechten, Straßenbereitern und Almosenknechten ernannt wurden. Sie versuchten, die bettelnden Kinder zu verjagen, wenn möglich trieben sie sie aus dem Bereich der eigenen Zuständigkeit hinaus. Die vertriebenen Kinder sammelten sich dann jenseits der Grenzen und kehrten auf verborgenen Wegen zurück. Über Land fahrenden Bettlerfamilien versuchte man, ihre Kinder abzunehmen, Eltern und Kinder zu trennen. Dies führte häufig dazu, dass die Kinder und Jugendlichen über kurz oder lang selbständig Gruppen bildeten, um sich gegenseitig unterstützen und beistehen zu können.

Bettelkinder, Kinderhexen
Im 16. und 17. Jahrhundert wurden Bettelkinder der Hexerei bezichtigt, um sie leichter verfolgen und ausrotten zu können. Natürlich waren junge Bettler an magischen Praktiken genau so interessiert wie andere Menschen, falls die zauberischen Maßnahmen nur Erfolg im Überlebenskampf versprachen. Im Zusammenhang der Hexenprozesse in der Frühen Neuzeit gerieten Bettelkinder zusehends ins "Hexenunwesen". Einerseits traten sie als Beschuldigte der Hexerei und Zauberei ins Visier; andererseits betätigen sie sich als Denunzianten und wurden so Auslöser von Verfolgungen, indem sie andere als Zauberer und Hexen bezichtigten, die sie beim Hexensabbat gesehen haben wollten. Auf diese Weise attackierten Kinder unliebsame Erwachsene, darunter Verwandte, mitunter Väter und Mütter, häufig Nachbarn, Freunde oder Bekannte, die daraufhin nicht selten zum Tod verurteilt und hingerichtet wurden (vgl. Hartwig Weber: Hexenprozesse gegen Kinder, Frankfurt am Main ; ders.: Von der verführten Kinder Zauberei, Sigmaringen 1996).

Besonders bekannt wurde der Prozess gegen den "Zauberer-Jackl", in dessen Verlauf jugendliche Bettler unter der Folter Teufelsbuhlschaft, Vieh- und Milchvergiftungen, Hexenflug, Hostienschändung und Wetterzauber eingestanden. Wegen zauberischer Untaten wurden u.a. 1678 neun- bis dreizehnjährige Bettelkinder mit dem Fallbeil oder dem Schwert getötet, andere wurden durch Erdrosseln hingerichtet. So gelang es den kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten, die Bettelplage vorübergehend einzudämmen.

Spitäler, Waisenhäuser, Findelhäuser, Arbeitshäuser
Eine verbreitete Maßnahme, um das Massenproblem der Kinderbettler in den Griff zu bekommen, bestand in der Einrichtung von Häusern für sie, in denen Wegsperren und Arbeiten Hand in Hand gingen. Die Institution der Waisen- und Findelhäuser reicht bis weit ins Mittelalter zurück. Ihre Erziehungsmaxime zielte auf die Verbindung von christlichem Glauben, Arbeit, Bildung und Unterordnung. Daraus entstand die Idee des Arbeits- und Zuchthauses. Im 17. Jahrhundert kam es zu einer Welle von Gründungen solcher Häuser, die Arbeitsplätze für die Festgesetzten boten. Die kasernierten Kinder sollten zum ökonomischen Gewinn der Einrichtungen beitragen. Tatsächlich entwickelten sie sich mancherorts zu einem festen Bestandteil des lokalen Produktions- und Arbeitsmarktes.

Das Erziehungskonzept in den Waisen-, Arbeits- und Zuchthäusern - zum Beispiel in Amsterdam, Hamburg, Lübeck, Kopenhagen, Würzburg, Bamberg und Dresden - zielte darauf ab, den widersetzlichen Willen der Kinder und Jugendlichen im Sinne der pietistischen Sünden- und Heilslehre zu brechen. Das traditionelle Spital, in dem während des Mittelalters Waisen und Findelkinder untergebracht wurden, wandelte sich im Laufe der Frühen Neuzeit von einer multifunktionalen Armen- und Fremdenanstalt zur Krankenstätte und zum Krankenhaus des 18. Jahrhunderts.

Bildung
Seit der Reformation nahm der Kampf gegen die Kinderbettelei zu. Auch arme Kinder sollten nach dem Willen der Reformatoren arbeiten und ihren Unterhalt selbst verdienen, Jungen vornehmlich mit Handarbeit, Mädchen als Gehilfinnen. In den Armenhäusern, in denen die Bettelkinder interniert wurden, sollten sie darüber hinaus eine gewisse Grundbildung erfahren. Bildung bestand dabei vornehmlich aus einer Unterweisung im Christentum. Nebenbei versuchte man auch, den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Dies geschah mit der Vorstellung, dass sie, wenn sie erwachsen waren, "einen ehrlichen Beruff ergreiffen" könnten. Der Alltag der Kinder war hauptsächlich durch Andachten und Gottesdienste, fromme Übungen und Lesungen im Katechismus ausgefüllt. Neben der Arbeit und der religiösen Erziehung blieb für Spiel und Freizeit so gut wie kein Raum.

In Häusern, die merkantilen Betrieben zugeordnet waren, dauerte der Arbeitsalltag der Gassen- und Waisenkinder bisweilen 14 Stunden. Im 18. Jahrhundert nahm der Gedanke freiwilliger Arbeitshäuser wachsenden Raum ein. Ziel blieb aber auch dann der ökonomische Erfolg.

Literatur

Helmut Bräuer: Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800, Leipzig 2010;

Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, Frankfurt am Main 2000;

Markus Meumann: Unversorgte Kinder. Armenfürsorge und Waisenhausgründungen im 17. und 18. jahrhundert, in: Udo Sträter u.a. (Hg.): Waisenhäuser in der frühen Neuzeit, Halle und Tübingen 2003, S. 1ff.

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