Länderbericht - historischer, politischer, sozialer Hintergrund (Text und Fotos: Joana Stümpfig, Juli 2009)
Brasilien ist seit Ende der Militärdiktatur (1964 - 1985) eine präsidiale Bundesrepublik, die in 26 Bundesstaaten und einen Bundesdistrikt (Distrito Federal) gegliedert ist. Das Land besteht aus fünf Regionen:
Norden (Norte) Nordosten (Nordeste) Mittelwesten (Centro-Oeste) Südosten (Sudeste) Süden (Sul)
Seit dem ersten Januar 2003 ist Luiz Inácio Lula da Silva Präsident Brasiliens. Er gehört der Arbeiterpartei an (PT). Früher war er Gewerkschaftsführer.
Soziale Ungerechtigkeit und Gewalt 2009 prangerten brasilianische Menschenrechtsorganisationen die soziale Ungleichheit des Landes im UN-Ausschuss für Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Genf an. In Brasilien teilen zehn Prozent der Bevölkerung mehr als drei Viertel des nationalen Einkommens unter sich auf. Das ärmste Fünftel erhält gerade einmal 2,4% des nationalen Einkommens. Das Land ist somit noch immer eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit (Gini-Koeffizient von 58.0).
Die Statistiken zeigen, dass die Ungleichheiten nicht nur zwischen den verschiedenen Regionen bestehen, sondern auch innerhalb der Regionen, zum Beispiel zwischen Stadt und Land. Die soziale Ungleichheit ist ein Phänomen, welches im ganzen Land zu beobachten und nicht nur auf regionale Ungleichheiten zurückzuführen ist.
Im brasilianischen Kontext kann man die Themen Armut und soziale Ungleichheit nicht diskutieren, ohne auch über Gewalt zu sprechen. Arm zu sein bedeutet dort nicht nur, sich um seine Bildung, eine angemessene Gesundheitsversorgung und eine Arbeit im formellen Sektor zu sorgen. Es bedeutet auch dem ständigen Risiko ausgesetzt zu sein, in seinem Zuhause und auf der Straße Gewalt zu begegnen.
In dem Dokument "Criminalization of Poverty" wird der Fall von Patricia, einer dreifachen Mutter aus Rio de Janeiro zitiert. Sie wurde als Kind vergewaltigt, ihr Vater wurde erschossen und vor 13 Jahren wurde ihr dreijähriger Sohn von einer bala perdida (verlorene Kugel, Querschläger) in ihrem Haus getötet. Ihr Fall ist kein Einzelfall. Viele Brasilianer führen Leben, die auf solch dramatische Art und Weise von der Gewalt geprägt sind.
Obwohl die Armen des Landes die größten Opfer der Gewalt sind, werden sie vom Rest der Gesellschaft häufig kriminalisiert. Gerade auch der Wohnort einer Person trägt hierzu bei. Viele der ärmsten brasilianischen Bürger leben in informellen städtischen Ansiedlungen, den Favelas. Diese sind oft rechtsfreie Gegenden voller Gewalt, in denen der Staat kaum Macht ausübt. Viele Brasilianer assoziieren Favelas mit Kriminalität und obwohl Favelas auch das Heim von Kriminellen und sogar von organisierten Banden sind, so stellen diese jedoch die Minderheit der Bewohner. Die Medien und auch die Politik verstärken die Vorurteile gegenüber Favelabewohnern. Wie zum Beispiel Sérgio Cabral Filho, Governeur des Bundeslandes Rio de Janeiro, der in einem Interview 2007 sagte: "Wenn Sie die Kinderzahlen der Mütter in Lagoa Rodrigo de Freitas, Tijuca, Méier und Copacabana (weiße Mittelstandsviertel von Rio de Janeiro) betrachten, dann finden Sie dort einen schwedischen Standard vor. Und dann sehen Sie nach Rocinha (die größte Favela Brasiliens im Süden von Rio). Das ist Sambia oder Gabun. Das ist eine Fabrik für Straftäter." Durch diese verzerrte Darstellung werden die Opfer von Gewalt unter Brasiliens ärmsten Bürgern zu Kriminellen.
Die Bewohner dieser Favelas sind der Gewalt der Polizei und der Drogengangs ausgeliefert, die oft ganze Stadtviertel kontrollieren. Gerade in Rio de Janeiro kommen noch die Milizen noch.
Das koloniale Erbe und seine Folgen Die Spuren der Kolonialzeit (1500 - 1821) und dem anschießenden Kaiserreich (1822-1888) sind in Brasilien noch heute deutlich zu spüren.
In dieser Zeit wurden die indigenen Völker von rund fünf Millionen Personen auf heute rund 250.000 dezimiert. Der "Mangel an Arbeitskräften" wurde durch Sklaventransporte ausgeglichen, denen rund 10 Millionen Afrikaner zum Opfer fielen. Heute sind ca. die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung Schwarze oder Mischlinge und immer noch bestimmen Hautfarbe und Herkunft stark die individuellen Chancen in der Gesellschaft. Auch die ungleiche Bodenbesitzstruktur, die auch heutzutage zu heftigen Konflikten führt, ist ein Überbleibsel der kolonialen Politik.
Drogen Die Drogengesetzgebung in Brasilien ist streng, wird aber in der Realität auch aus Gründen der Polizeikorruption häufig nicht durchgesetzt. Der Besitz von geringen Mengen Cannabis zieht keine Haftstrafen nach sich und die Toleranz gegenüber dem Konsum ist sehr hoch.
Viele Drogen wie Heroin, Kokain und Marihuana werden in Brasilien selbst hergestellt. Die Drogenkartelle sind sehr mächtig und üben einen großen Einfluss auf die Politik und das soziale Leben aus. Gerade in Rio de Janeiro kontrollieren Drogengangs oft ganze Stadtviertel und liefern sich mit den Spezialeinheiten der Polizei Straßenkriege. Psychologen haben bei Bewohnern der betroffenen Stadtviertel in Rio de Janeiro post-traumatische Stresssymptome feststellen können, die man sonst nur in Kriegsgebieten beobachten kann.
An der Spitze der Drogen steht jedoch der Alkohol, dieser wird viel und gerne konsumiert. Nach Alkohol und Tabak kommen die Lösungsmittel. Mindestens 15% der Schüler an öffentlichen Schulen gaben an, Lösungsmittel zu konsumieren oder schon konsumiert zu haben. Die Droge Lolô (ein Lösungsmittel, welches oft in kleinen Fläschchen aufbewahrt und geschnüffelt wird) ist gerade zu Karneval eine sehr oft gesehene Droge. Die Straßenkinder schnüffeln meist Kleber, den sie von den Schuhputzern zu überteuerten Preisen kaufen. Das ist billig und stillt den Hunger. In den letzten Jahren konnte aber auch ein starker Anstieg beim Konsum von Crack festgestellt werden. Hiervon werden die Betroffenen schnell und stark süchtig und entwickeln aggressive Tendenzen. Auf der Straße sagen schon so einige: "Ach Kleber, das ist doch etwas für Weicheier, ein richtiger Kerl nimmt Crack." Dies führt zu einer erhöhten Beschaffungskriminalität und aggressiverem Vorgehen bei Raubüberfällen und auch untereinander.
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