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Bedrohte Kindheiten

 

Kinderhände Höhlenzeichnungen
 (Abb.: Felsüberhang mit Handabdrücken von Kindern. Argentinien, Río Pinturas. Fundstelle: "Religion heute", 21. März 1994)
 


Ausgegrenzte Kinder. Historische Streiflichter
(Hartwig Weber, November 2009)
 
Inhalt
Altertum, Mittelalter
Aussetzung
Verkauf
Ammenwesen
Weggabe
Bettelwesen, Verstümmelung
Wechselbälger
Maßnahmen gegen Kindesmord und Aussetzung
 Christentum
 Findelhäuser und andere Einrichtungen
 Öffentliche Armenfürsorge
Rettungshausbewegung
Straßenkinder: Zum Beispiel Lateinamerika
 
Illegitimer Nachwuchs
 "Gamines"
Literatur

„Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto (…) größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell mißbraucht werden." (Siehe Lloyd de Mause: History of Childhood, 1974, deutsch 1977). Tatsächlich wurden Kinder seit Menschengedenken immer wieder Misshandlungen wie Aussetzung, Verkauf, Verstümmelung, Züchtigung und Mord ausgesetzt. In früheren Zeiten waren Kinder völlig rechtlos. Ein Begriff von Kindheit als besondere Lebensphase hat sich erst allmählich herausgebildet. Kindermord und insbesondere die Tötung Neugeborener waren auf allen Kontinenten und in allen Epochen verbreitet (vgl. Shulamith Sahar: Kindheit im Mittelalter, Reinbek 1993, S. 150ff.). Bis in die jüngste Zeit ist das Verhältnis Erwachsener zu Kindern ambivalent geblieben. „Aus materieller Not, sozialer Angst, Gefühlskonflikten und magisch-religiösen Vorstellungen der Eltern erwuchsen immer wieder auch den Kindern lebensgefährliche Bedrohungen und grausame Leiden." (Siehe Gisela Zenz: Kindesmißhandlung und Kindesrechte, Frankfurt am Main 1981, S. 55).  

Altertum. Mittelalter

Wieviele Säuglinge im Laufe der Jahrhunderte ermordet wurden, wieviele Kinder verwahrlosten oder eines frühen Todes starben, ist nicht präzise festzustellen. Unzählige kamen bei der Geburt oder kurz danach um. Da im Altertum Methoden der Empfängnisverhütung weithin unbekannt blieben, war die Tötung neugeborener Kinder eine Form der (nachträglichen) Geburtenkontrolle, meist motiviert von ökonomisch prekären Lebensverhältnissen und handfester Überlebensnot. Dabei galt Säuglingsmord nicht etwa als Unrecht. Ein Neugeborenes wurde (etwa im Alten Ägypten, in Babylonien, in Griechenland) erst als „Mensch" angesehen, nachdem bestimmte Zeremonien an und mit ihm vollzogen worden waren. Am häufigsten wurden schwache und missgebildete Kinder, und vor allem Mädchen, getötet. Die Spartaner pflegten missgebildete und behinderte Kinder auszusetzen. In Rom war Kindermord legal. Aufgrund der „patria potestas" konnte ein Vater seinen Nachwuchs als Sklaven verkaufen. 

Kindestod
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 Allgegenwärtigkeit des Todes von Kindern:
"Und hätteste du auch die Brust im Munde,
es hilft dir nichts in dieser Stunde."
Aus dem sogen. Heidelberger Blockbuch von 1465.
(Abb. H. Weber: Von der verführten Kinder Zauberei, Sigmaringen 1996,
Abb. 6)
 

  

Aussetzung

Bei den Germanen entschied der Hausvater, ob ein neugeborenes Kind in die Familie aufgenommen wurde oder ob man es aussetzte. Das kam meist der Tötung gleich; denn Aussetzung bot nur eine minimale Überlebenschance. Verstoßene und auf wundersame Weise gerettete Kinder sind die populärsten Figuren in der griechischen Tragödie und Komödie gewesen. In Wirklichkeit wurden ausgesetzte und zufällig gerettete Kinder meist für die Sklaverei aufgezogen oder zur Prostitution genötigt.
 
Die Praxis der Aussetzung von Kindern war auch im Hoch- und Spätmittelalter weit verbreitet. Nicht wenige der ehelichen, vor allem aber uneheliche Kinder waren unerwünscht. Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Kindesaussetzung und Armut. Besonders in Zeiten von Hungersnöten wurden zahllose Säuglinge an den Toren von Klöstern und Kirchen niedergelegt. Bisweilen war das Elend so groß, dass Eltern ihre Kinder als Sklaven verkauften und ihre Töchter zwangen, sich zu prostituieren. Bei Zwillingsgeburten nahm man an, dass die betreffende Mutter mit mehreren Männern Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Deshalb setzte man häufig eines der beiden Kinder aus.


Erst im Hoch- und Spätmittelalter entfiel das Recht der Eltern, ihren Nachwuchs zu verstoßen. Kinder galten jetzt als rechtsfähig durch Geburt, wenn die Lebensfähigkeit nachgewiesen war, nicht erst durch Anerkennung. An die Stelle der unbeschränkten Strafgewalt trat die Zuchtgewalt. Aber die Strafandrohungen für Fälle der Tötung unehelich geborener Kinder blieben äußerst milde. Kindermord war weiterhin üblich. Er konnte durch die vielen, immer wieder neu erlassenen Edikte der Kaiser nicht entscheidend eingeschränkt werden. Verbreitete Praxis war es, die willentliche Tötung von Säuglingen dadurch zu verschleiern, dass Erwachsene, insbesondere die Mütter, sie nachts mit ins Bett nahmen und gleichsam versehentlich erstickten.


Verkauf. Die Weggabe eigener Kinder in die Sklaverei war in den meisten Nationen des Altertums verbreitet. Dieser Brauch hielt sich in Europa bis ins Mittelalter. Der Schwabenspiegel (1275) erlaubte es ausdrücklich, dass Eltern im Falle wirtschaftlicher Not ihre Kinder verkauften. Mittelalterlichen Quellen verlauten, dass arme Eltern bisweilen ihren Nachwuchs an Adelige oder wohlhabende Bürger verschenkten oder verkauften. Diese Praxis wurde in Russland erst im 19. Jahrhundert verboten.


Ammenwesen. Der Codex Hammurabi, die Bibel (Exodus 2,7; Genesis 35,8; 2. Könige 11,2; 2. Chronik 22,11), ägyptische Papyri sowie die griechische und römische Literatur erwähnen bereits das Ammenwesen. Nicht nur im Altertum, sondern auch im Mittelalter und in der Neuzeit war die Weggabe von Kindern an stillende Ammen zumal in wohlhabenden Familien weit verbreitet. Vom 12. bis zum 15. Jahrhundert nahmen viele adelige Frauen in ganz Westeuropa die Dienste von Ammen in Anspruch. Es waren vor allem Frauen vom Land und Sklavinnen, denen diese Aufgabe übertragen wurde. Der Brauch hielt sich beim Adel und in der Mittelschicht aller europäischen Länder bis ins 19. Jahrhundert; in Frankreich und Deutschland war er auch bei Handwerkern und Bauern verbreitet. Die auswärts untergebrachten Kinder waren den Leihmüttern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Am extremsten vernachlässigt wurden unehelich geborene Kinder sowie Kinder, deren Mütter oder Väter gestorben waren. Den Ammen ging es um Gelderwerb. Mütterliche Gefühle dürften ihnen fremd gewesen sein. Kinder, die in den ersten Lebensjahren zu Ammen in die Pflege kamen, hatten nur geringere Überlebenschancen.


Weggabe. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war in Europa die Praxis verbreitet, Kinder von sieben oder acht Jahren in die Fremde zu schicken, um sie als Pagen, Hofdamen, Laienbrüder, Diener oder Knechte zu verdingen. Sie arbeiteten in der Landwirtschaft und im Handel, aber auch in der Seefahrt. Dort mussten sie Dienstleistungen wie Erwachsene verrichten. In späteren Jahrhunderten setzte die Armenpflege diese Praxis fort, indem sie elternlose Kinder in „Lehrverhältnisse" gab, wo sie gegen Unterkunft, Verpflegung und Erziehung exzessiv ausgenutzt, ausgebeutet, misshandelt und vernachlässigt wurden.

Bettelwesen. Verstümmelung. Aus dem Rom der Zeit Caesars wird berichtet, dass Kinder verstümmelt wurden, damit sie leichter Mitleid erregten und folglich erfolgreicher betteln konnten. Deshalb wurden ihnen Augen ausgestochen, Arme und Beine gebrochen, Füße deformiert. Dieser Brauch hielt sich über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit.
 
Im Gefolge von Armut und Hungersnöten breitete sich das Bettelwesen aus. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatten die Waisenhäuser nicht genügend Raum, um die vielen elternlosen Kinder aufzunehmen, die die Straßen bevölkerten. Infolge der Auflösung des Feudalsystems in den westeuropäischen Ländern zogen immer mehr Vagabunden über Land. Scharen von Bettlern rotteten sich zusammen. Verstärkt wurden sie durch entlassene Soldaten. Die aggressiven Räuberbanden terrorisierten die Landbevölkerung. Die Regierungen ergriffen repressive Maßnahmen, erließen Bettelverbote, verstärkten die Armenpolizei und veranstalteten Jagden nach den Vagabunden. Unter ihnen gab es Scharen von Kindern und Jugendlichen, die mitunter auf eigene Faust Dörfer und Gehöfte überfielen und die Bauern ausraubten. In Bayern wurden die Bettelkinder zu Hexen erklärt, damit man sie leichter ausrotten konnte. Arbeitsscheue Bettler, aufsässige Kinder, Waisenkinder und Prostituierte wurden zwangsweise in Zucht- und Arbeitshäuser, die neuen Institutionen staatlicher „Fürsorge", eingewiesen.
 
Wechselbälger

Der so genannte Volksglaube war geeignet, bei der Beseitigung des behinderten Nachwuchses mit zu helfen. Missgestaltete Kinder wurden als Wechselbälger oder Kielkröpfe, Hexen- oder Teufelskinder diskriminiert. Angeblich waren die dämonischen Kinder an ihrer Anfälligkeit für Krankheiten, ihrem anhaltenden Schreien und dem unstillbaren Hunger zu erkennen. Dämonen, böse Geister, Hexen oder der Satan selbst galten als ihre wahren Eltern, die ihre höllische Brut insgeheim den Menschen unterschoben hatten, während sie deren wohlgestaltete Sprösslinge wegtrugen. Damit die Ausgangsbedingungen wieder hergestellt würden und die wahren Mütter und Väter ihren entführten Nachwuchs zurück bekämen, quälten die vermeintlich Betrogenen die Satansbrut so lange, bis Teufel und Unholde Mitleid bekamen, Erbarmen zeigten und den Tausch rückgängig machten. Bis zum Eintritt des Erfolgs verstarben allerdings die meisten der malträtierten Kinder.  

Der verbreitete Glaube an Unholde, die Kinder stehlen, ermorden, opfern und zu Flugsalbe verarbeiten, zeugen – genau so wie die angeblichen Ritualmorde der Juden - von den ambivalenten Gefühlen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Menschen ihrem Nachwuchs gegenüber (vgl. Hartwig Weber: Kinderhexenprozesse, Frankfurt am Main 1991, S. 143ff.) 
 
 
Der Teufel raubt ein Kind 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 Der Teufel raubt ein Kind, Basel 1493.
(Abb. H. Weber: Von der verführten Kinder Zauberei, Sigmaringen 1996, Abb. 11)
 
 
   
  
Maßnahmen gegen Kindesmord und Aussetzung

Christlicher Einfluss bewirkte, dass in Rom seit dem 4. Jahrhundert zahlreiche kaiserliche Edikte gegen Kindermord und den Verkauf von Kindern in die Sklaverei erlassen wurden. Die Kinderschutzmaßnahmen sollten der Verhütung, zumindest der Einschränkung von Kindestötung und Misshandlung dienen. Im 2. Jahrhundert n.Chr. gründete die Kaiserin Faustina Einrichtungen zur Aufnahme ausgesetzter Mädchen. Das Konzil von Nicaea (325 n.Chr.) ordnete die Einrichtung von Armenspitälern in den christlichen Gemeinden an, die sich teilweise zu Kinderasylen entwickelten.


Im Mittelalter wurden Kirchen und Klöster zu Orten, an denen Kinder anonym abgegeben werden konnten. Im 8. Jahrhundert wurden in Italien die ersten Asyle gegründet, die ausschließlich verstoßene Kinder aufnahmen. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden massenhaft Kinder ausgesetzt. Papst Innozenz III. gründete daraufhin in Rom das Spital zum Heiligen Geist. In der Regierungszeit Ludwigs XIII. setzte sich in Frankreich Vinzenz von Paul für die massenhaft auftretenden Findelkinder ein. In Russland ließ Katharina II. Findelhäuser bauen. Vor den Findelhäusern stellte man Körbe mit warmen Decken zur Aufnahme der Kinder bereit oder brachte Drehfenster an, durch die die Kinder anonym hindurchgereicht werden konnten.

Findelhäuser und andere Einrichtungen. Im Mittelalter wurden Kirchen und Klöster zu Orten, an denen Kinder anonym abgegeben werden konnten. Im 8. Jahrhundert wurden in Italien die ersten Asyle gegründet, die ausschließlich verstoßene Kinder aufnahmen. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden Kinder in großer Zahl ausgesetzt. Papst Innozenz III. (1198 – 1216) gründete daraufhin in Rom das Spital zum Heiligen Geist ("St. Spirito"). In der Regierungszeit Ludwigs XIII. setzte sich in Frankreich Vinzenz von Paul für die massenhaft auftretenden Findelkinder ein. In Russland ließ Katharina II. eigens Häuser für sie bauen. Vor diesen Einrichtungen stellte man Körbe mit warmen Decken zur Aufnahme der Kinder bereit oder brachte Drehfenster an, durch die die Kinder anonym hindurchgereicht werden konnten.

 

Nr: 421 Babyklappe_Neapel_01  Nr: 422 Babyklappe_Neapel_02  Nr: 423 Babyklappe_Neapel_03 
Babyklappe in in der Via dell' Annunziata in Neapel seit 1320,  geschlossen im Jahr 1875. Schwestern, Waisenkindern im Heim für verlassene Säuglinge

 Öffentliche Armenfürsorge. Seit dem 16. und 17. Jahrhundert wurde die Fürsorge für Kinder ohne elterliche Obhut zunehmend Bestandteil der öffentlichen Armenfürsorge. Allerdings durften für Waisen-, Findel- und sonstige bedürftige Kinder keine großen Kosten verursacht werden. Stattdessen sollten die betroffenen Kinder möglichst frühzeitig zu produktiver Arbeit angeleitet werden.

Mancherorts wurden selbst Kleinkinder bis ins 19. Jahrhundert zusammen mit Erwachsenen, Armen, Geisteskranken und Geschlechtskranken in Armenhäusern untergebracht. Im England des 17. und 18. Jahrhunderts verfrachtete man herumstreunende Kinder und jugendliche Delinquenten kurzerhand in die Kolonien (z.B. nach Virginia), wo sie in den Plantagen arbeiten mussten. Im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der Einrichtungen für verarmte, verwahrloste, herumstreunende und delinquente Minderjährige beträchtlich zu.

Nr: 444 Babyklappen-Deutschland 

LesehilfeAnzahl der Babyklappen in Deutschland. In Berlin gibt es zurzeit 4 Babyklappen oder Orte an denen Frauen anonym niederkommen können.

Rettungshausbewegung

Nachdem verwaiste und ausgesetzte Kinder seit den frühen christlichen Jahrhunderten in Klöstern und Hospitälern aufgenommen wurden und das 12. und 13. Jahrhundert dazu überging, eigens Findel- und Waisenhäuser zu eröffnen, setzte im frühen 19. Jahrhundert die so genannte „Rettungshausbewegung" ein. Vorläufer waren die 1694 gegründeten Halleschen Anstalten des Pietisten August Hermann Francke, der Erziehung als Vorbereitung des von Erbsünde belasteten Kindes auf seine Bekehrung hin gestaltete. In den Franckeschen Stiftungen in Halle war eine Waisen-, Schüler- und Studentenanstalt mit 3000 Jugendlichen entstanden.


1813 gründete Johannes Falk (1768 – 1826) eine „Gesellschaft der Freunde in Not" und eröffnete 1821 in Weimar den "Lutherhof". Christian Heinrich Zeller (1779 – 1869) richtete im Jahr 1820 im Komtureischloss von Beugen am Oberrhein ein Erziehungshaus ein. In Süddeutschland kam es in den folgenden Jahren zur Gründung zahlreicher Rettungshäuser für „verwilderte und verwahrloste Kinder und Jugendliche". Philipp von der Recke, der Initiator der „Gesellschaft für Menschenfreunde in Deutschland", eröffnete eine ähnliche Anstalt im Düsseltal.
 
 
Am bekanntesten und erfolgreichsten war Johann Hinrich Wichern (1808 – 1881), der am 12. September 1833 in Horn bei Hamburg das „Rauhe Haus" eröffnete. Dort nahm er zum Teil vorbestrafte Jugendliche aus Hamburger Arbeitervierteln auf und bildete sie handwerklich aus. Er verband sein Konzept fürsorgender Praxis mit einem ambitionierten gesellschaftsreformerischen Programm und ausgreifender Öffentlichkeitsarbeit.  
 
 
Wichern

 
 
 
 
 
 
 
 
 
  Johann Hinrich Wichern, 1808 - 1881
(Abb. aus: J. Thierfelder u.a.:  Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn 1976, S. 201)
 
 
 
 
 
 
Jugendliche wuchsen in den Anstalten in familienähnlichen Beziehungen auf, jeder übernahm einen Teil der Verantwortung. Freiheit in die Erziehung wurde groß geschrieben. 1848 war Wichern maßgeblich an der Gründung der „Inneren Mission" beteiligt. Öffentlichkeitswirksam kümmerte er sich nicht nur um unversorgte Waisen und junge Straffällige, sondern thematisierte auch die „Verwahrlosung" der Kinder der beginnenden Industriegesellschaft. Er wollte nicht nur materielles Elend bekämpfen, sondern auch den Autoritätsverlust in den Familien, die sich ausbreitende „Sittenlosigkeit" und den Verlust an Religiosität zurückdrängen, Tendenzen, die seiner Meinung nach die Auflösung des Gesellschaftsgefüges drohend vor Augen stellten.
 
 
Seit 1841 kümmerte sich Giovanni Melchiorre Bosco („Don Bosco") um arme, benachteiligte Jugendliche in Turin. 1846 gründete er das „Oratorium des heiligen Franz von Sales", eine Art offene Herberge. 1859 entstand die „Gesellschaft des Heiligen Franz von Sales", der Orden der Salesianer Don Boscos. 1872 folgte die Ordensgemeinschaft der „Töchter Mariens, Hilfe der Christen" (Don Bosco-Schwestern). Bis zum Tod Don Boscos im Jahr 1888 gab es in Europa und Lateinamerika 250 Häuser, in denen 130 000 Jugendliche aufgenommen wurden, die zum Großteil verwahrlost und desorientiert ihr Leben auf der Straße fristeten. 
  
Don Bosco
 

 
 
 
 
 
 
 
  Don Bosco, 1815 - 1888 (Abb Don Bosco Mission)
 
 
 Mit ihren präventiven Erziehungsmethoden, gekennzeichnet durch Vertrauen, Anerkennung der jeweiligen Persönlichkeit, Toleranz und Solidarität, boten die Salesianer den Jungen des beginnenden Industriezeitalters Unterkunft, Verpflegung und Kleidung und vermittelten sie zu Lehrverträgen für die Ausbildung in Handwerksberufen. Heute unterhalten die Salesianer und Salesianerinnen Don Boscos Schulen, Fördereinrichtungen, Kinderheime und Institutionen für Straßenkinder in aller Welt.
 
Im Jahr 1848 gab es bereits über hundert Anstalten der Rettungshausbewegung. Im Jahr 1868 existierten 320 evangelische und 80 katholische Rettungshäuser im deutschen Sprachgebiet. Während Wichern Kinder und Jugendliche nur mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten aufnahm, kamen straffällige junge Menschen, die unter der Kontrolle der Armenpolizei standen, nicht in privaten Anstalten, sondern zwangsweise in „Armen- und Correctionsanstalten" unter. Dort versuchte man, die Erziehung der „armen verwahrlosten Kinder" mit der Anleitung zur Arbeit zu verbinden, wobei sich mitunter Wohltätigkeit und Profitinteressen mischten.
 
Im 19. Jahrhundert wurde das Problem der Ausbeutung Minderjähriger immer dringlicher. 1824 bedauerte die preußische Regierung die „qualitative und quantitative Ungeheuerlichkeit der industriellen Kinderarbeit" in bestimmten Bezirken. 1839 verfügte das „Preußische Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" ein Arbeitsverbot für Kinder unter neun Jahren.
 
Die Privatinitiativen des Bürgertums in der Wohltätigkeit lenkten im 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit immer unausweichlicher auf die Probleme der ausgegrenzten, vernachlässigten und bedrohten Kinder. 
 
 
Kinderarbeit
 
 
 
 
 
 
 
 
Kinderarbeit in den wallisischen Bergwerken.
Zeitgenössische Darstellung (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts)
(Abb. aus: J. Thierfelder u.a.: Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn 1976, S. 195)
 

 

In USA und Europa wurden zahlreiche Gesellschaften zum Schutz von Kindern (und Tieren) gegründet. In Frankreich gelang es der Kinderschutzbewegung (Théophile Roussel), mehrere Kinderschutzgesetze durchzusetzen. In Deutschland entstanden „Kinderschutzkommissionen", später der Deutsche Kinderschutzbund.
 
Mehr und mehr wurden Kinderschutz und Jugendwohlfahrt als eigenständige staatliche Aufgaben akzeptiert. Zum Schutz verlassener und misshandelter Kinder wurden nun „Fürsorgegesetze" erlassen. Sie begünstigten den Aufbau von Jugendwohlfahrtsbehörden. Kein Kind sollte mehr aufgrund der Armut seiner Eltern von seiner Familie getrennt werden. Mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch entstand für das Deutsche Reich ein einheitliches Familienrecht, das Inhalt und Grenzen der elterlichen Gewalt definierte. 1922 trat das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz in Kraft, das auf „Hilfeleistung" für gefährdete Kinder und Jugendliche und auf den Ausgleich sozialer Benachteiligung abzielte.

 

Straßenkinder 

Zum Beispiel: Lateinamerika. Seit mehr als hundert Jahren ist in den armen Ländern des Südens, zumal in Lateinamerika, das Phänomen obdachloser Kinder und Jugendlicher zu beobachten, die ihr Leben auf der Straße fristen. Uwe von Dücker (Die Kinder der Straße. Überleben in Südamerika, Frankfurt am Main 1992, S. 46) behauptet, lateinamerikanische Straßenkinder seien ein Erbe der Conquista. Dafür nennt er folgende Gründe: 1.) Die präkolumbianischen Völker hätten im Durchschnitt nicht mehr als zwei Kinder gehabt, die sie als Ursprung des Seins und Bedingung zukünftigen Wohlergehens schätzten und umsorgten. 2.) Die Eroberer hätten die heimische Praxis, illegitim gezeugte Kinder als „Bastarde von geringem menschlichen Wert" zu verstoßen, in Übersee unbedenklich fortgesetzt. Bereits im Jahr 1337 sei in Madrid das erste Haus für ausgesetzte, auf der Straße ums Überleben kämpfende Kinder – „niños abandonados" – eröffnet worden (vgl. Guillermo Páez Morales: Ser niño en Colombia, Bogotá 1990, von Dücker, ebenda, S. 33). 3.) Erst mit der Kolonisierung hätten sich die Familien der lateinamerikanischen Urbevölkerung in kinderreiche Armenfamilien verwandelt, die schließlich ihren Nachwuchs nicht mehr ernähren konnten, ihn um des eigenen Überlebens willen verstießen und so fortan ihren eigenen Beitrag zur Ausbreitung des Phänomens der Straßenkinder leisteten.

 

Illegitimer Nachwuchs von Adel und Klerus. Bereits wenige Jahre nach der Eroberung des Gebietes, das heute Kolumbien und Venezuela einnimmt, soll es in der neu gegründeten Stadt Santa Fé de Bogotá nur so von Horden herumstreunender, ausgesetzter und elternloser Kinder gewimmelt haben. 1639 rügte der spanische König die „Gottlosigkeit", mit der man die ausgesetzten Kinder behandelte. Er hatte überrascht festgestellt, dass es sich dabei nicht um indianischen, sondern spanischen Nachwuchs handelte. Die Europäer hatten ihre „frischgeborenen illegitimen Kinder auf den öffentlichen Straßen, in Toreinfahrten, unter Brücken und anderen unbewachten Stellen" ausgesetzt. „Diese unschuldigen und womöglich ungetauften Kinder werden gezwungen, an Orten zu überleben, wo die Innereien von Hunden und anderen Tieren weggeworfen werden." Die Mönche des Ordens San Juan de Dios sollten Abhilfe schaffen und den Kindern in ihrem Kloster Obdach gewähren (vgl. Guillermo Hernandez de Alba: Documentos para la historia de la educación en Colombia, Bogotá 1969, S. 177f.; von Dücker, ebenda S. 38).
 
1794 rügte der spanische König Carlos IV. die miserable Situation der ausgesetzten Kinder und die Tatsache, „dass einige Tausend Kinder jährlich an Hunger und an der Brutalität der Straße sterben". Man schmähe diese Kinder als illegitime „Bastarde, Ehebrecherische, Inzuchtler oder Bordellzöglinge". Nicht sie, sondern ihre Eltern, die sie aussetzten, handelten illegitim. „Alle aktuell oder in Zukunft ausgesetzten Kinder sollen zu ihren Eltern zurückkehren und dort alle bürgerlichen Rechte und Ehren erhalten. (…) Zwischen legitimen und illegitimen Kindern soll ab sofort nicht mehr unterschieden werden." Die Straßenkinder sollten in die öffentlichen Schulen aufgenommen werden und gleiche Rechte wie andere Kinder und Jugendliche erhalten. Auch dürften sie nicht mehr öffentlich bestraft und „weder Peitsche noch Galgen" eingesetzt werden (José María Ots Capdequi: El siglo XVII español en América, Mexico 1945, von Dücker, ebenda, S. 39).
 
Trotz dieser Verordnungen nahm die Zahl der Straßenkinder im 18. Jahrhundert zu. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts kamen zu dem hauptsächlich von Adel und Klerus verstoßenen Nachwuchs auch die Kinder verarmter Indios hinzu. 1805 erließ die spanische Krone ein neues Familienrecht, das sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung, Kastrierung, Abtreibung, Kindesentführung, Ausbeutung und Aussetzung von Kindern unter Strafe stellte. Aber der der illegitime Kindersegen ließ sich nicht einschränken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts (zwischen 1927 und 1933) waren in Kolumbien mehr als 40 Prozent des Nachwuchses „illegitim". In sechs der zwanzig Departements des Landes wurden damals mehr als die Hälfte der Kinder außerehelich geboren, in drei Departements gab es doppelt so viele illegitime wie legitime Kinder. 
  
 
Gamin
 

 
"Gamín", Bogotá 1976
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird in Kolumbien das Phänomen der „niños abondonados", später „niños de la calle" genannt, präzise beobachtet und beschrieben. Das Kind der Straße Bogotás, ‚chino’ genannt, „ist in der Regel ein Waisenkind oder ein ausgesetzes Kind, das sich von Essensresten oder irgendeinem Stück weggeworfenen Brotes ernährt. Es stiehlt Obst auf den Märkten, ist völlig zerrissen und verschmutzt, bewegt sich von einer Straße zur anderen, sein Vokabular ist dreist und kennt alle schmutzigen Ausdrücke. Diese Vereinigung von Scheußlichkeit und Schönheit, von Schlechtigkeit und Grazie, Bösartigkeit und Perversität (…) das ist der ‚chino’ Bogotás, der Engel aller Schelmenstreiche." (Januario Salgar: Papel periódico ilustrado, Bogotá Oktober 1844, von Dücker, ebenda. S. 44).
 
 
Während der Befreiungskriege 1810 wurden zehnjährige Kinder der Straße vom Militär aufgesammelt und unter Waffen gestellt. Viele wurden getötet, gerieten in Gefangenschaft oder starben eines grausamen Todes. 1882 wurde in Bogotá eine Militärschule für „niños desamparados" und „niños desválidos", verlassene und verwahrloste Kinder, als geschlossene Einrichtung eröffnet, in der die bei Polizeirazzien aufgegriffenen Kinder und Jugendlichen unterrichtet und gesellschaft geformt werden sollten.
 
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die „gamines", die die Straßen der großen Städte Kolumbiens bevölkerten, an ihrer äußeren Erscheinung – schmutzige Haut, graue, übergroße Kleider, verfilztes Haar – leicht zu erkennen. Sie betätigten sich als Schuhputzer, Laufjungen, Verkäufer von Kleinkram ("cachivaches"), bettelten an Straßenecken und stahlen Scheibenwischer von den Autos. Ihre Schlauheit und Kreativität gab Anlass zu vielen Anekdoten, die über sie erzählt wurden. Heute hat sich das Aussehen der auf der Straße lebenden und arbeitenden Kinder und Jugendlichen verändert. Sie stammen meist aus Familien, die vom Land vertrieben wurden und sich in den Slums der großen Städte niedergelassen haben. Äußerlich gesehen, fallen sie weniger auf als die "gamines" der Vergangenheit, zumal sie Kleider (Jeans und Sportschuhe, "tenis") tragen wie ihre Gleichaltrigen in aller Welt. (mehr? siehe Straßenkinder global; oder: Straßenkinder in Kolumbien).

  

Literatur
 
Gisela Zenz: Kindesmißhandlung und Kindesrechte, Frankfurt am Main 1981.


Shulamith Sahar: Kindheit im Mittelalter, Reinbek 1993.


Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München 1975.


Ray E. Helfer u.a.: Das geschlagene Kind, Frankfurt 1978.


Lloyd de Mause (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen, Frankfurt 1977.


Uwe von Dücker: Die Kinder der Straße. Überleben in Südamerika, Frankfurt am Main 1992.

 

(weiter über "Bettelkinder - Straßenkinder"?)



 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 07.07.2015 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |