Europa
- Straßengeschichte, Berlin
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Miriam, schwanger (R. Tautz-Heims, Sozialpädagogin)
Miriam ist 19 Jahre alt. Sie hat gemeinsam mit ihrem Freund eine neun Monate alte Tochter. Das Kind lebt seit sieben Monaten in einer Pflegefamilie. Den Eltern ist es ausgesprochen wichtig, mit ihrem Kind in Kontakt zu bleiben. Sie haben es nicht freiwillig in Pflege gegeben. Das Paar ist uns (KUB; Berlin) schon seit einiger Zeit bekannt. Beide hatten früher längere Phasen der Obdachlosigkeit erlebt. Sie nutzen sporadisch unsere Einrichtung, um z.B. einen Brief an das Familiengericht zu verfassen, eine Schuldnerberatung zu finden, Probleme mit der GEZ zu regeln oder aber einfach nur zur Notversorgung mit Lebensmitteln, wenn das Alg II mal wieder gekürzt worden ist.
Im Oktober kommt Miriam mit der Vermutung zu uns, sie sei wohl schwanger. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass sie Recht hat. In Begleitung einer Kollegin sucht die junge Frau einen Gynäkologen auf und erfährt dort, dass sie im sechsten Monat schwanger ist. Sie und ihr Freund haben geglaubt oder vielleicht auch einfach nur gehofft, dass sie vom vielen Essen dick geworden sei. In den anschließenden Gesprächen ist beiden anzumerken, wie unglücklich sie mit diesem Ergebnis sind. Der junge Mann gibt zu verstehen, dass sie ein zweites Kind übervordert, zumal sie schon mit ihrem ersten Kind nicht zurecht kamen.
Die junge Frau reagiert ambivalent. Einerseits stimmt sie ihrem Freund zu, andererseits weckt der Gedanke an das neu erwachende Leben in ihr besondere Gefühle. Sie wünscht sich eine gelingende Mutterschaft. Beide, Mutter und Vater, haben selbst eine schwere traumatische Kindheit erlebt. Wir besprechen verschiedene Möglichkeiten, unter anderem auch die einer Adoption.
Nach einer Bedenkzeit kommen die jungen Leute im November erneut in die Beratungsstelle. Sie haben entschieden, dass sie das Kind nicht behalten können. Unter der belastenden Situation leidet auch die Beziehung der beiden. Sie haben jetzt häufig Streit miteinander, und ihre finanzielle Situation ist prekär. Sie sind vom Jobcenter noch weiter gekürzt worden, verstehen eigentlich nicht warum. Sie haben kein Geld für Lebensmittel und auch nicht für die Praxisgebühr. Da sie ihre Unterlagen nicht finden, kommt keine Klärung zustande.
Anfang Dezember suchen wir gemeinsam eine Adoptionsberatungsstelle auf. Gerade an diesem Tag hat die junge Frau starke Vorwehen, so dass die Beratung rasch abgebrochen werden muss. Die beiden stellen viele Fragen und entscheiden sich dann grundsätzlich für eine Adoption. Der jungen Frau ist deutlich anzumerken, wie schwer ihr diese Entscheidung fällt. Anschließend fahren wir mit dem Taxi in die Klink – ein Glück, Fehlalarm.
Dann, Anfang Januar, steht die junge Frau plötzlich wieder vor unserer Tür, diesmal alleine. Ihr Freund hat sich von ihr getrennt, er hat sich eine neue Freundin zugelegt, und er hat diese in die gemeinsame Wohnung mit einziehen lassen. Die junge Frau fühlt sich von den beiden zunehmend gemoppt, man spricht z.B. nicht mit ihr. Sie hält es in der Wohnung nicht mehr aus und hat schon seit einer Woche keinen richtigen Wohnplatz mehr.
Nach einer weiteren Woche der Ungewissheit, ohne Geld, ohne festen Wohnplatz (ins Frauenhaus möchte Miriam nicht) und nach weiteren Gesprächen mit mir, trifft Miriam eine Entscheidung. Sie möchte ihr Kind behalten. Sie erkennt realistisch, dass sie alleine mit dem Kind keine Chance hat und entscheidet sich deshalb für eine Mutter-Kind-Einrichtung. Am nächsten Tag begleite ich sie zum Jugendamt. Dort trifft sie auf die Sozialarbeiterin, die ihr das erste Kind „weggenommen" hat. Entgegen ihren Befürchtungen kommt es innerhalb von nur zwei Tage zu einer vom Jugendamt organisierten Unterbringung der jungen Frau in einer Mutter-Kind-Einrichtung.
Inzwischen habe ich gehört, dass Miriam ein Mädchen geboren hat. Sie hat zum Vater des Kindes wieder Kontakt aufgenommen, und sie fühlt sich wohl in der Einrichtung.
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