Amerika | Afrika | Asien | Europa | Australien | Bedrohte Kindheiten | Publikationen | Projekte | Medien

Suche:   


Europa

Flüchtlingskinder und - jugendliche in Deutschland
(Hartwig Weber)
 

„… und schließlich gibt es noch das Kriterium der Schutzbedürftigkeit. Obwohl der Status des Asylsuchenden missbraucht wird,  ist das Asyl als Kategorie von enormer Bedeutung. Schutzbedürftigen zu helfen, bringt der einheimischen Bevölkerung selten ökonomische Vorteile; und derartige Vorteile sind auch nicht der Grund. Indem sie bedrängten Gesellschaften helfen, bewahren einkommensstarke Gesellschaften ihre Selbstachtung. Gleichwohl gibt es beim Asylverfahren Spielraum für Reformen. Eine angemessene Migrationspolitik würde das Asylrecht auf jene wenigen Länder beschränken, die unter einem Bürgerkrieg, einer brutalen Diktatur, der Verfolgung von Minderheiten oder ähnlichen sozialen Belastungen leiden. Bürgern solcher Länder sollte rasch und großzügig Asyl gewährt werden, allerdings verbunden mit einem zeitlich begrenzten Aufenthaltsrecht, das erlischt, sobald im Herkunftsland der Frieden wiederhergestellt ist.“

(Paul Collier: Exodus, München 2014. S. 277)

 

Aufgrund verschiedener Krisenherde in der Welt fliehen heute viele Menschen vor Gewalt, Krieg oder Verfolgung aus ihren Heimatländern. Derzeit sind rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte von ihnen Kinder und Jugendliche. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es nie so viele Flüchtlinge. Meist fliehen die Betroffenen in die Nachbarländer, oft aber erhoffen sie sich politische Stabilität und eine Perspektive für ein neues Leben in Europa.

Die Rangfolge der Herkunftsländer von Asylbewerbern in Deutschland ist nicht gleichbleibend, sondern schwankt je nach politischen Verhältnissen und Ereignissen. Früher kamen die meisten Asylsuchenden aus Syrien, Serbien, Eritrea, Mazedonien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Somalia und Afghanistan. Seit 2015 nimmt die Zahl der Schutzsuchenden aus den Ländern des Westbalkans ab. Im November 2015 stand Syrien mit einem Anteil von 54,3 Prozent an erster Stelle. Den zweiten Platz nahm Afghanistan mit einem Anteil von 8,8 Prozent ein. Danach folgte der Irak mit 7,8 Prozent. Mehr als zwei Drittel (71,0 Prozent) aller in diesem Monat gestellten Erstanträge entfielen damit auf diese drei Herkunftsländer.

Im Zeitraum von Januar bis November 2015 waren 70,9 Prozent der Asyl-Erstantragsteller jünger als 30 Jahre, 26,3 Prozent unter 16 Jahren alt. Asylsuchende sind im Schnitt also deutlich jünger als der Bevölkerungsdurchschnitt in Deutschland. Mütter mit Neugeborenen sind im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert. Besonders hoch ist auch die Zahl der Kleinkinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren. Minderjährige, unbegleitete Minderjährige und Schwangere sind im Blick auf Unterbringung und Versorgung, aber auch was den Zugang zu frühkindlicher, schulischer und beruflicher Bildung betrifft, besonders schutz- und hilfsbedürftig (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, November 2015).

Mehr als zwei Drittel aller Erstanträge wurden von Männern gestellt. Im Zeitraum von Januar bis November 2015 wurden insgesamt 240.058 Entscheidungen über Asylanträge getroffen. Dabei lag die Gesamtschutzquote für alle Herkunftsländer bei 45,8 Prozent. 109.905 Anträge wurden positiv beschieden (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, November 2015).

Die Flüchtlinge aus afrikanischen und asiatischen Staaten haben meist die arabischen Länder zum Ziel. Die Fluchtrouten nach Europa sind lebensgefährlich. In der Regel gibt es keine legale Möglichkeit, nach Europa zu kommen. So versuchen die Menschen in überfüllten Booten über das Mittelmeer nach Italien, über die kaum weniger gefährlichen marokkanischen Grenzzäune in der spanischen Exklave Ceuta oder über die Ägäis und die EU-Ostgrenzen nach Griechenland zu gelangen.

 Tausende Flüchtlinge sind dabei umgekommen. Kinder und Jugendliche, die es dennoch in ein europäisches Land geschafft haben, berichten von Tod und Verzweiflung unterwegs, nachdem sie Krieg und Gewalt in ihren Heimatländern überstanden hatten.

Die deutsche Aufnahmequote von Flüchtlingen liegt über dem europäischen Durchschnitt, aber hinter Schweden und Malta.  

 

Aktuelle Stimmung in Deutschland

Die Tragödien vor der italienischen Insel Lampedusa, bei der mehrere Hundert Flüchtlinge ertrunken sind, und der Tod Tausender in den Meeren zwischen Afrika und Europa sowie zwischen der Türkei und Griechenland haben das Thema Flüchtlinge in Deutschland so stark wie noch nie ins Bewusstsein gerufen und zu heftigen Diskussionen und politischen Verwerfungen geführt. Hute ist der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten das bestimmende gesellschaftspolitische Thema in Deutschland. Die bestehenden und neu eingerichteten Flüchtlingsunterkünftige werden zum Teil heftig bekämpft und sind zu Orten krimineller rechtsradikaler Übergriffe geworden.

Nach Artikel 16a des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland genießen politisch Verfolgte Asyl. Entsprechend der deutschen Rechtsordnung ist die Bundesrepublik für die Entscheidungen über Asylanträge, die Länder und Kommunen hingegen für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zuständig. Seit 2008 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Jahr für Jahr weniger Anträge bearbeitet, als Neuanträge eingegangen sind. Dadurch stauen sich über die Jahre immer mehr unbearbeitete Asylanträge. Dieser Stau wächst sich zu einer verheerenden Belastung für die Flüchtlinge selbst aus. Sie sind nun gezwungen, Monate, mitunter Jahre lang in überfüllten Unterkünften auszuharren, ungewiss, wie sich ihre Lebensperspektive entwickeln wird. Währenddessen entstehen im öffentlichen Diskurs ausgrenzende Fremdbilder insbesondere im Blick auf bestimmte Migrantengruppen, die die eigene Gesellschaft im Vergleich dazu als besonders positiv herauszustellen.

 

„Flüchtlingskinder“ - „begleitet, „unbegleitet“

Mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahre 1992 ist die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 22 des Abkommens die Verpflichtung eingegangen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, "um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt […], angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen […] festgelegt sind."

Der Begriff „Flüchtlingskind“ bezeichnet junge Menschen, die ihre Heimatländer verlassen mussten, um Krieg, Gewalt, existenziellen Nöten, Diskriminierung oder einem Leben ohne Zukunftsperspektive zu entfliehen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Ankunftsland einen Aufenthaltstitel anstreben.

Nach den Kinderrechten der Europäischen Union sind Minderjährige besonders geschützt. „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“ (Art. 24 (2) GRC) Die Bedeutung dieses Artikels ist in der Anwendung von ausländerrechtlichen Normen durch den Europäischen Gerichtshof deutlich hervorgehoben worden (11 § 1 (1) SGB VIII). (Vgl. Paul Lagarde: „Anlage zur Denkschrift Kinderschutzübereinkommen, Erläuternder Bericht zu dem Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern“ Rn. 36 und 44 in BT Drucksache 14/09, S. 45f.)

 

Mehr über Flüchtlingspolitik:
www.bundesregierung.de
Die Bundesregierung informiert auf ihrer Themenseite „Flucht und Asyl“

 

In jüngster Zeit richtet sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge; das sind Kinder oder Jugendliche, die ohne Eltern oder Verwandte in die Bundesrepublik einreisen. Nach der EU-Aufnahmerichtlinie sind sie besonders schutzbedürftig, zumal sie in ihrem Heimatland und auf der Flucht oft Opfer oder Zeugen von Gewalttaten waren und traumatisiert ankommen.

Wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die Bundesrepublik einreisen, werden sie von einem der Jugendämter in Obhut genommen und in eine geeignete Einrichtung der Jugendhilfe gebracht. Dort wird ein sogenanntes Clearingverfahren durchgeführt. Alter, Bildungsgrad, Gesundheitsstatus, Ausbildungswünsche werden festgestellt. Die jungen Menschen erhalten einen Vormund, der sie bei der Klärung von ausländer- und asylverfahrensrechtlichen Fragen sowie bei der familiären Zusammenführung unterstützt und begleitet. In der Regel werden sie nach dem sogenannten „Königsteiner Schlüssel“ auf die einzelnen Bundesländer verteilt (hierzu weiter unten mehr).

 

Gründe für die Flucht aus dem Heimatland, Lebenssituation in Deutschland

Die Beweggründe dafür, dass ganze Familien ihre Heimat verlassen, sind vielfältig. Oft sind die unmenschlichen Lebenssituationen gerade von Kindern und fehlende Zukunftsperspektiven dafür ausschlaggebend. In manchen Ländern müssen Eltern Angst davor haben, dass ihre Kinder zwangsrekrutiert und als Kindersoldaten eingesetzt werden. Es drohen Beschneidungen, Kinderhandel und Zwangsverheiratungen der Mädchen. Die Bildungswege sind verschlossen. Hinzu kommen Diskriminierung und gesellschaftliche Exklusion.

In Deutschland erwartet die Flüchtlingskinder häufig ein ungewisses Dasein. Sie haben Angst, ins Land ihrer Herkunft oder in einen Transitstaat abgeschoben zu werden. Viele Jugendliche leben in Massenunterkünften, ohne Privatsphäre, ohne passende Ausstattung und ohne die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben der Landesbewohner teilzunehmen. Sie erleben oft Rassismus oder Abweisung.

Die Erfahrungen zu Hause, auf der Flucht und im Aufnahmeland gehen an den Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorbei. Auf der Flucht über das Mittelmeer oder aus der Türkei nach Griechenland sind tausende Flüchtlinge, unter ihnen viele Kinder, ertrunken. Die Politik der Europäischen Union zielt darauf ab, die geflüchteten Menschen gar nicht erst einreisen zu lassen.

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem legt in der Dublin-Verordnung (Verordnung (EU) Nr.604/2013 (Dublin III ) fest, dass Asylsuchende nur ineinem EU-Mitgliedsstaat einen Asylantrag stellen können. So wird verhindert, dass die Flüchtlinge eine freie Wahl des Zufluchtslandes treffen können, und es erschwert das Weiterreisen zu Familienangehörigen und Vertrauenspersonen an einem sicheren Ort. Die Verordnung sieht vor, dass vor der Würdigung der eigentlichen Fluchtgründe geprüft wird, welcher Staat für die Asylantragstellung eigentlich zuständig ist. Im Falle von gemeinsam reisenden Familien ist dabei in der Regel das Land zuständig, in dem die Familie die EU betreten hat. Da die meisten Grenzübertritte in südeuropäischen und osteuropäischen Ländern stattfinden, werden viele Flüchtlingsfamilien auch gegen ihren Willen zurück geschickt. Das kann dazu führen, dass sie dort auf der Straße leben müssen. Aus Staaten wie Bulgarien, Polen, Italien, Griechenland, Malta und Zypern wird immer wieder über menschenunwürdige Aufnahme- und Lebensbedingungen berichtet.

 

Mehr über die europäische Flüchtlingspolitik:
www.euroactiv.de
Netzmedien zur Europapolitik

 

ec.europa.eu/dgs/home-affairs
Website des EU-Flüchtlingskommissars

 

Asylverfahren bei Kindern

Eigentlich bildet die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) für alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen den rechtlich bindenden Rahmen staatlichen Handelns. Nach Artikel 3 KRK ist es die Pflicht der Behörden, sich bei allen Entscheidungen, die Minderjährige betreffen, am Kindeswohl („best interests of the child“) zu orientieren. Das Kindeswohl wird im Allgemeinen so verstanden, dass Gefahren für Minderjährige ausgeschlossen werden müssen und ihre Interessen im Mittelpunkt stehen sollen. Das Kindesrecht darf hinter ausländerrechtlichen Vorschriften nicht zurücktreten.

Die Rechtspraxis bleibt indes hinter diesem Ideal zurück. So werden kinderspezifische Fluchtgründe wie Zwangsverheiratung, Sippenhaft, Zwangsrekutierung als Kindersoldaten, Beschneidung, innerfamiliäre Gewalt, Kinderprostitution oder die Verletzung weiterer Rechte in den Anerkennungsverfahren oft nur ungenügend berücksichtig.

Für Flüchtlingskinder, die in Deutschland angekommen sind, hält die Unsicherheit, wie es mit ihnen weiter gehen soll, gerade deshalb an, weil sich die Asylverfahren in die Länge ziehen. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung beträgt häufig ein Jahr, bisweilen noch viel mehr. Für die betroffenen Kinder bedeuten die unklare Zukunftsperspektive und die Gefahr, abgeschoben zu werden, eine Dauerbelastung, selbst dann, wenn sie sich durch Schulbesuch und Erlernen der deutschen Sprache integrieren wollen.

Der Weg eines in Deutschland angekommenen Flüchtlings verläuft in der Regel folgendermaßen: Zunächst wird er in der räumlich nächstliegenden Aufnahmeeinrichtung „erstversorgt“. Diese Einrichtungen werden von den Ländern betrieben. Von dort werden die Asylsuchenden zur Ausländerbehörde, zur Grenzpolizei, zur Polizei und zu sonstigen amtlichen Stellen geschickt.

Die Verteilung der Schutzsuchenden auf alle Bundesländer erfolgt mit Hilfe des Systems „EASY“ (Erstverteilung von Asylbegehrenden) nach dem Königsteiner Schlüssel. In der für die Asylsuchenden vorgesehenen Einrichtung werden ihre Daten aufgenommen und an die zuständigen Einwohnermeldeämter weiter gegeben. Jetzt erhalten die Flüchtlinge eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende (BüMA). Damit können sie bei der Außenstelle des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), die der jeweiligen Erstaufnahmeeinrichtung zugeordnet ist, einen Asylantrag stellen. Das Schlüsselproblem beim Anerkennungsverfahren besteht in der langen Bearbeitungszeit der Anträge und der langen Verweildauer in den Aufnahmeeinrichtungen.

Am 1. November 2015 ist das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder“ in Kraft getreten (siehe http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/685/68556.html). Neu ankommende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden nunmehr so auf die Bundesländer verteilt, dass diese eine ihnen zugewiesene Quote erfüllen müssen. Am 3. Dezember 2015 waren bundesweit 61.412 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Obhut eines Jugendamtes. Ihre Zahl steigt derzeit immer noch stark an.

 

Weiterer Handlungsbedarf (nach UNICEF)

„Das Kindeswohl muss als zentrales Moment in allen ausländerrechtlichen Verfahrensschritten berücksichtigt werden, besonders in Fällen, in denen eine Abschiebung angedroht bzw. vollstreckt werden soll.

Insbesondere in den Durchführungsverordnungen und den für die Ausländerbehörden verbindlichen Verwaltungsvorschriften zu den einschlägigen Gesetzen müssen klare Regelungen zur Beachtung und Umsetzung des Kindeswohls festgelegt werden. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes fordert dies in den Abschließenden Bemerkungen zum Dritt- und Viertbericht Deutschlands (CRC/C/DEU/CO/3-4) vom 31.01.2014.

Die Handlungsfähigkeit Minderjähriger im Ausländerrecht muss auf das 18. Lebensjahr angehoben werden. Es bedarf einer Anpassung der Handlungsfähigkeit an den allgemeinen deutschen rechtlichen Standard von 18 Jahren. Diese notwendige Änderung sollte begleitet werden von klar geregelten Verfahrensweisen und Anhörungsrechten von Minderjährigen, um ihr Recht auf Gehör zu wahren.

Es müssen Verfahren geschaffen werden, um Flüchtlingskinder altersgerecht zu hören und zu beteiligen. Die Anhörung von Kindern und Jugendlichen im Asylverfahren muss kindergerecht gestaltet werden. Ohne ausreichend pädagogisches beziehungsweise psychologisches Fachpersonal im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge können die kinderspezifischen Fluchtgründe nicht ausreichend beachtet werden.

Wenn Kleinkinder bei Anhörungen anwesend sind, sollte eine entsprechende Kinderbetreuung vorhanden sein – einerseits, um den Kindern die Schilderung der Verfolgungsgeschichte der Eltern zu ersparen bzw. den Eltern das Schamgefühl zu nehmen, vor dem Kind ihre eigene, oft demütigende Verfolgungsgeschichte zu berichten; andererseits um dem Anhörer zu ermöglichen, eine ruhige Anhörung durchzuführen. Zudem kann so eine extreme Stresssituation für alle Beteiligten vermieden werden.

Es ist zu wenig bekannt über die Fluchtgründe von Kindern und Jugendlichen und wie diese im Asylverfahren bewertet werden. Der erste Schritt sollte dementsprechend eine grundlegende Analyse der Bescheide und der Anhörungsprotokolle der Asylverfahren und eine Befragung der Flüchtlingskinder über ihre Erfahrungen in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren sein. Auf der Basis einer solchen Analyse könnte ein kindergerechtes Verfahren etabliert werden.

Die im Koalitionsvertrag vorgeschlagenen Regelungen zum Bleiberechtsparagraphen § 25a AufenthG müssen schnellstmöglich umgesetzt und mit Anwendungshinweisen versehen werden, die das Kindeswohl berücksichtigen. Sie umfassen die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach vierjährigem Voraufenthalt bei erfolgreich abgeschlossenem Schul- oder Ausbildungsabschluss und Antragstellung vor dem 27. Lebensjahr.

 

(UNICEF: Flüchtlingskinder in Deutschland:

http://www.unicef.de/blob/56282/fa13c2eefcd41dfca5d89d44c72e72e3/fluechtlingskinder-in-deutschland-unicef-studie-2014-data.pdf )

 

Integrationshilfen für Flüchtlingskinder

Die Inklusion von Flüchtlingskindern in ihre neue Umgebung hängt in starkem Maß davon ab, ob es gelingt, sie in die Schule zu integrieren und ihnen eine gute Bildung und dann auch eine Berufsbildung angedeihen zu lassen. Dennoch fehlt es oft an geeigneten Förderinstrumenten und Maßnahmen. Der lange Weg zu Bildungserfolg und Beruf ist voller Hürden. Erst langsam wächst in Deutschland das Problembewusstsein.

Nach wie vor sind Schulbildung und Ausbildung von Flüchtlingskindern abhängig vom Aufenthaltsstatus. Inzwischen ist ein Dialog zwischen Bundesregierung, Verwaltungen und Nichtregierungsorganisationen über die Frage der Bildungsmöglichkeiten der Betroffenen in Gang gekommen, und es gibt ein starkes Engagement von lokalen Initiativen, die vor Ort den Bildungszugang von jungen Flüchtlingen unterstützen.

 

Bildung und Ausbildung

„Viele junge Flüchtlinge haben hohe Bildungsaspirationen. Jüngeren Kindern bietet die Kita bzw. die Schule zudem angesichts der allgemein unsicheren Lebensumstände oft einen sicheren Raum und Halt im Alltag; für Jugendliche erhöht Bildungserfolg auch die Bleibechancen.

Frühkindliche Bildung für Flüchtlingskinder verbessert den Spracherwerb und ist damit eine Voraussetzung für den späteren Schulbesuch; zudem ermöglicht die Betreuung von Kleinkindern den Eltern, Sprachkurse zu besuchen bzw. eine Erwerbstätigkeit oder Ausbildung aufzunehmen.

Bundesländer, Kommunen und Schulen stehen derzeit unter erheblichem Handlungsdruck, den Kita- und Schulbesuch von Flüchtlingskindern im Sinne chancengleicher Teilhabe zu organisieren und damit das völker- und grundrechtlich verankerte Recht auf Bildung zu gewährleisten.

Flüchtlingskinder haben einen Rechtsanspruch auf Betreuung; allerdings sind die Kita-Besuchsquoten gering. Dies ist laut dem Landesverband Berlin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft u. a. darauf zurückzuführen, dass Betreuungsangebote in Wohnortnähe fehlen und die Eltern nicht hinreichend unterstützt und beraten werden.

Auch der Schulzugang ist rechtlich garantiert; faktisch sind Flüchtlingskinder bundesweit schulpflichtig oder haben zumindest ein Schulbesuchsrecht. Aus der länderspezifischen Ausgestaltung des Bildungssystems ergeben sich jedoch strukturelle Zugangsbarrieren: So sind in den Schulgesetzen unterschiedliche Wartefristen verankert, und die Schulpflicht beginnt teilweise erst sechs Monate nach dem Zuzug aus dem Ausland. Dies widerspricht den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie, wonach der Zugang zum Bildungssystem spätestens drei Monate nach Antragstellung gewährleistet werden muss (Art. 14 Abs. 2 RL 2013/33/EU).

Abgesehen von der Frage des Zugangs steht derzeit die praktische Umsetzung des Rechts auf Bildung auf dem Prüfstand: Wenige Lehrer haben eine Zusatzqualifikation für Deutsch als Zweitsprache und Kompetenzen im Umgang mit Traumatisierten; sie stehen einer wachsenden Zahl neu zugewanderter Flüchtlingskinder gegenüber, deren bisherige Bildungskarrieren sehr unterschiedlich und meist durch Brüche, Traumata und lernhemmende Lebenssituationen gekennzeichnet sind.“

 (Sachverständigenrat für Integration und Migration: Junge Flüchtlinge. Aufgaben und Potenziale für das Aufnahmeland)

 

Problemlagen, offene Fragen

Der Rechtsanspruch von Kindern und Jugendlichen auf einen Zugang zu Bildung wird häufig nicht erfüllt. Ihre Einschulung ist oft zu kompliziert, und es fehlt an passenden Sprachlernangeboten. Viele Jugendliche finden keine Schule, die sie aufnimmt. Ohne Schulabschluss haben sie keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. 

Allerdings haben private Initiativen an vielen Orten Schulprojekte gestartet und nehmen sich der jungen Flüchtlinge an.

Schwierig gestalten sich darüber hinaus die Übergänge in weiterführende Bildungsangebote und in die berufliche Ausbildung. Bei „Geduldeten“ muss die Ausländerbehörde zustimmen. Die vorhandenen Förderinstrumente - Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) und Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) – kommen für junge Flüchtlinge wegen der langen Voraufenthaltszeiten kaum zum Tragen, so dass Ausbildung und Studium oft am Problem der Finanzierung scheitert.

(Vgl. Thomas Berthold: In erster Linie Kinder. Flüchtlingskinder in Deutschland. Deutsches Komitee für UNICEF e.V., 2014. Im Auftrag gegeben beim Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V.)

 

Berufliche Bildung

„Neben der schulischen Bildung wird es angesichts der Altersstruktur der Asylsuchenden auch immer dringlicher, die berufliche Bildung zu organisieren: (…)

Grundvoraussetzung für berufliche Bildung ist die Sprachförderung; diese steht jungen Flüchtlingen allerdings nur eingeschränkt offen. Die Hürden beim Zugang von Flüchtlingen zur dualen Ausbildung werden zwar seit 2009 kontinuierlich abgebaut: Auf die sog. Vorrangprüfung wird seit 2009 verzichtet; seit Juli 2013 besteht außerdem für Geduldete beim Zugang zu Ausbildungen keine Wartefrist mehr, und die Bundesagentur für Arbeit (BA) muss nicht mehr prüfen, ob es sich um einen anerkannten Ausbildungsberuf handelt.

Mit dem 25. BAföG-Änderungsgesetz wurden schließlich die Wartefristen für Fördergelder gekürzt: Ab August 2016 müssen sich Geduldete nicht mehr 4 Jahre, sondern nur noch 15 Monate ununterbrochen rechtmäßig im Land aufgehalten haben, um Berufsausbildungsbeihilfe oder BAföG beantragen zu können. Doch auch 15 Monate bilden noch eine zeitliche Hürde.

Bisher nicht abschließend geregelt ist zudem, dass Flüchtlingen während der gesamten Ausbildungszeit eine Aufenthaltserlaubnis zugesichert wird. Zwar ist im Juli 2015 das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung verabschiedet worden, das u. a. § 60a AufenthG neu regelt: Danach kann die Duldung um jeweils ein Jahr verlängert werden, solange die Berufsausbildung andauert.

Die Neuregelung bedeutet also für Betriebe eine größere Planungssicherheit als bislang. Dennoch ist die Einstellung eines Geduldeten immer noch mit einem Risiko verbunden: Rechtlich handelt es sich weiterhin nur um eine Aussetzung der Abschiebung. Da die Behörde bei der Verlängerung der Duldung einen Ermessensspielraum hat, ist weiterhin nicht sicher, dass der Betrieb den Azubi über den kompletten Ausbildungszeitraum behalten kann, geschweige denn darüber hinaus als Arbeitskraft. Strittig ist zudem, ob die Altersgrenze von 21 Jahren nicht angehoben werden sollte, um mehr jungen Geduldeten eine berufliche Perspektive zu eröffnen.“

(https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/28_Einwanderung_und_Vielfalt/Kurzinformation_SVR_Zugang_zu__Aus-_Bildung_fuer_Fluechtlinge_20150729.pdf)

 

Schulsozialarbeit, Beratung

Über den Erfolg beim Einstieg in Bildung und Ausbildung sind Beratung und Betreuung der jungen Flüchtlinge von entscheidender Bedeutung. Dabei geht es zum Beispiel um die Klärung von aufenthaltsrechtlichen Fragen, bei der Vermittlung von Praktikumsplätzen, und Hilfestellungen beim Lernen. Eine aktive Schulsozialarbeit kann dabei nützlich sein. Förderprogramme in den Regelschulen, die junge Flüchtlinge aufnehmen müssen, sind entscheidend. In manchen Orten, zum Beispiel in Berlin, wurden „Willkommensklassen“ eingerichtet. Wenn die Kinder und Jugendlichen dort einen Sprachkurs absolviert haben, wechseln sie in reguläre Klassen. Passende Unterrichtsmaterialien können den Flüchtlingskindern den Einstieg in die neue Lern- und Bildungswelt erleichtern.

(vgl.http://www.unicef.de/blob/56282/fa13c2eefcd41dfca5d89d44c72e72e3/fluechtlingskinder-in-deutschland-unicef-studie-2014-data.pdf)

Im Jahr 2015 hat der Bund eigens Integrationskurse für Asylbewerberinnen und –bewerber aus Iran, Irak, Syrien und Eritrea eröffnet. Die angebotenen Sprachkurse dienen der persönlichen, kulturellen, beruflichen und sozialen Integration.

Kinder lernen die deutsche Sprache am schnellsten in Kita und Schule. Die Länder verbessern die Sprachförderung, indem sie mehr Lehrer einstellen. Es gibt Feriensprachkurse, und die Hausaufgabenhilfe wird ausgebaut. Soziale Einrichtungen und ehrenamtlich engagierte Personen geben jungen Flüchtlingen Sprachunterricht, darüber hinaus bieten sie praktische Hilfs- und Beratungsangebote. „Dolmetscherpools“ an Universitäten und Hochschulen zum Beispiel in Rheinland-Pfalz geben Kommunikationshilfen in Albanisch, Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch, Nordkurdisch, Polnisch, Russisch, Spanisch, und Türkisch, und zwar kostenlos.

Handbücher, die aus dem Internet herunter geladen werden können, bieten Flüchtlingen, aber auch Helferinnen und Helfern praktische Handreichungen, zum Beispiel ein sog. „Refugee-Phrasebook“ für die alltägliche Kommunikation in unterschiedliche Lebenssituationen. Industrie- und Handelskammern (IHK) haben einen Leitfaden „Flüchtlinge in Ausbildung und Beschäftigung bringen“ veröffentlicht, der u. a. die Fragen „Wann darf ein Flüchtling eine Ausbildung absolvieren?“ oder „Und wie steht es mit der Sozialversicherungspflicht“ beantwortet.

In Rheinland-Pfalz werden jugendliche Flüchtlinge auch ohne Schulabschluss von berufsbildenden Schulen aufgenommen. In der Regel geschieht dies im einjährigen Berufsvorbereitungsjahr (BVJ). Hier werden ihnen elementare Sprachkenntnisse im Umfang von 15 bis 20 Stunden pro Woche vermittelt. Währenddessen werden die jungen Flüchtlinge Schritt um Schritt in den Regelunterricht, vor allem im fachpraktischen Bereich, integriert. Ziel ist es, ihnen einen Schulabschluss zu ermöglichen und eine berufliche Orientierung zu geben. So wachsen ihre Chancen auf einen Übergang in Ausbildung oder Beschäftigung.

 

Angebote für traumatisierte Flüchtlinge

Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass  posttraumatische Belastungsstörungen bei Flüchtlingskindern weit verbreitet sind. Sehr viele betroffene Kinder reagieren auf die Erfahrungen vor, während und nach der Flucht mit psychischen Auffälligkeiten. Besonders gravierend wirken sich auf Kinder die psychischen Belastungen und Erkrankungen der Eltern aus. Einige Länder bieten deshalb geeignete psycho- und traumatherapeutische Krisenintervention und Beratung an. Das Diakonische Werk und der Caritasverband haben psychosoziale Versorgungszentren für Asylsuchende geöffnet. Aber längst kommen noch nicht alle Kinder in den Genuss einer angemessenen psychotherapeutischen Beratung und Hilfe.

(Vgl. Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebensbedingungen im Exil und psychische Belastung junger Flüchtlinge. In: Kindheit und Entwicklung, 2008, Heft 4, S. 224–231; Elisabeth Helming: Gefährdung durch sexuelle Gewalt in Flüchtlingsunterkünften, in: IzKK-Nachrichten, 2012, Heft 1, S. 18f. Im Internet verfügbar unter: www.dji.de/bibs/IzKK_Nachrichten_2012.pdf; Birgit Jagusch u.a.: Migrationssensibler Kinderschutz. Ein Werkbuch. Frankfurt 2012)

 

  

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 22.06.2016 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |