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Amerika

Strassenkinder in Kolumbien - Gespräche / Interviews

GESPRÄCH MIT CARLOS

Carlos ist 15, Enrique 16 Jahre alt. Man sieht die beiden häufig zusammen. Carlos’ Nackter, knochiger Oberkörper ragt aus der ausgebeulten Hose hervor, die von einem um die Hüfte geschlungenen Strick gehalten wird. Er läuft barfuss, Fußsohlen und Zehnägel sind schwarz vor Dreck. Enrique ist ein ganzes Stück kleiner als Carlos, trägt enge Unterhosen, sonst nichts. Seine übrige Kleidung liegt frisch gewaschen und noch glänzend vor Nässe auf dem Betonboden des patio. Die beiden Freunde hören einander zu, sprechen angeregt miteinander; einer ergänzt, was der andere vergessen hat. So sind sie voll gegenseitigem Einvernehmen. Plötzlich, während Carlos in wachsendem Zorn davon spricht, wie er verletzt wurde, umarmt ihn Enrique. Wer weiß, ob die beiden noch leben würden, wenn sie einander nicht hätten?

FRAGE: Was hast du denn hier auf der Schulter? Gleich zwei große Narben nebeneinander?

CARLOS: Zwei Typen waren das. Fast hätten sie mich umgebracht.

FRAGE: Erzähl doch mal!

CARLOS: Ich hatte einige Kartons und andere Sachen aus dem Abfall gesammelt und wollte das Zeug verkaufen. Da kamen sie an und lachten mich deshalb aus. Sie wollten, ohne einen Finger zu rühren, meine gesammelten Sachen haben, sie verscherbeln und mit dem Geld Drogen kaufen. Sie fielen über mich her und stachen mit Messern auf mich ein. Das Blut spritzte wie verrückt. Aber der Freund dort (er deutet auf einen in der Nähe stehenden Jungen), der hat mir geholfen: Mit zwei Fingern hat er meine beiden Wunden zugehalten, und so kamen wir zusammen zur Unfallstation, wo sie mich nähten. (Der angesprochene Freund kommt näher und schaltet sich ins Gespräch mit ein.)

FRAGE: Und du, hattest du keine Angst, dass sie dich auch angreifen würden?

ENRIQUE: Wo denkst du hin? Wie konnte ich meinen Freund im Stich lassen, gerade dann, als er mich am nötigsten brauchte? Sieh mal, dieser Freund verlor so viel Blut und konnte sich von alleine nicht mehr helfen. Was für ein Schreck, als es immer schlimmer wurde! Aber dem lieben Gott sei Dank, wir kamen noch rechtzeitig ins Krankenhaus.

CARLOS: Aber weißt du, diese beiden Narben, die sind noch gar nichts im Vergleich zu dieser anderen Verwundung hier. (Er zeigt auf eine Narbe auf seinem Schulterblatt.) Einmal, als ich wieder von den Drogen völlig zugedröhnt war, legten wir uns unter einer Brücke zum Schlafen hin. Da kamen einige Kerle, mit denen wir zuvor Streit gehabt hatten, weil wir einen Teil von dem, was wir gestohlen hatten, nicht herausrücken wollten. Sie waren schon länger hinter uns her. Und als sie uns nun schlafend erwischten, schlugen sie uns fast tot. Diese tiefe Narbe hier blieb davon übrig. Drei Monate lang konnte ich kaum atmen vor Schmerzen. Wenn ich husten musste, wurde mir immer schwarz vor Augen . Vielleicht war es ja die Seele meiner Großmutter, die mich gerettet hat, denn die Typen hatten es wirklich darauf angelegt, uns umzulegen.

FRAGE: Und zu Hause, wusste deine Familie etwas von deinen Abenteuern?

CARLOS: Die hatten keine Ahnung. Dort bekam ich immer nur Schläge.

FRAGE: Warum das?

CARLOS: Wenn ich zugedröhnt nach Hause komme, mache ich immer wieder Unsinn. Es ist dann gerade so, als wenn ich verrückt wäre. Ich bin dann ganz aufgedreht, und am liebsten würde ich alles, was mir in den Weg kommt, zusammenschlagen. Vor allem, wenn du so unruhig bist, dann ist so etwas in dir drin, das danach verlangt, dass du Drogen nimmst . Du hast aber kein Geld, um dir welche zu kaufen. Dann nimmt man irgendwelche Sachen im Haus und verkauft oder verpfändet sie. Das Allerschlimmste aber ist, wenn du später wieder nüchtern nach Hause kommst, ohne dich daran zu erinnern, was du angestellt hast. Dann empfangen sie dich, vor allem der Vater, wie ein Tiger. Er haut dir eine runter und hat keinerlei Mitgefühl und schlägt dir fast die Knochen zu Brei . Da bleibt dir gar nichts anderes übrig als abzuhauen.

FRAGE: Wenn aber eine Zeit vergangen ist, gehst du dann wieder nach Hause zurück?

CARLOS: Klar! Man treibt ein paar Pesos oder ein Geschenk für die Mutter auf, und alles wird wieder gut.

FRAGE: Und wie kommst du an das Geld?

CARLOS: Indem ich in einer der Werkstätten hier in der Umgebung helfe. Ich weiß viel von diesen Dingen. Ich bin Fachmann für Mechanik. Wenn man so heruntergekommen ist wie ich, dann nutzen einen die Leute aus. Aber ich werde mich schon nicht unterkriegen lassen.

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 27.09.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |