Bedrohte Kindheiten
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Azucena: Selbstporträt, April 2011
Interviews (Die Gespräche wurden von Sor Sara Sierra im Dezember 2010 und Januar 2011 im Zentrum von Medellín, Kolumbien, geführt)
Azucena
Sie ist in der kolumbianischen Stadt Apartadó im Departement Antioquia geboren. Ihr Vater lebe noch, sagt sie, von ihrer Mutter weiß sie nichts. Sie hat drei Kinder, Juan Steban (Stiven), 17 Jahre – er wurde geboren, als sie gerade 13 war -, Kevin, 5 Jahre, Laura 4 Jahre.
Azucena ist schwarz und im siebten Monat schwanger. Sie hat ein hübsches Gesicht, ist kokett und humorvoll. Ihre Zähne leuchten wie Perlen im Kontrast zur ebenholzfarbenen Haut. Ihre krausen Löckchen sind mit vielen Perlen geschmückt und werden an der Stirn von einem himmelblauen Band gehalten. Azucenas Körper ist zierlich und muskulös. Mit dem schweren Bauch, der aus Bluse und Hose heraus zu quellen droht, hat sie Mühe, sich aufrecht zu halten. Azucena hält sich in der Nähe der Metrostation El Prado im Zentrum Medellíns auf. Dort ist der "Mädchenstrich". Ein etwa zwanzigjähriger Junge spricht sie an:
Junge: „Hallo Negrita, schenk mir doch wenigstens einen Blick!"
Azucena: „Nun schau dir mal diesen Typ an! So sind sie alle: Stinkfreundlich. Und wenn sie einen eingewickelt und rumgekriegt haben, machen sie sich aus dem Staub."
Junge: „Mit mir kannst du so nicht reden. Ich hab selbst eine Tochter. Die ist schon acht Jahre alt. Ich besuche sie regelmäßig. Und nicht nur das. Als ich das Schmerzensgeld bekam nach dem Unfall (er fuchtelt mit seinen Krücken herum und zeigt auf die Knie mit kaum verheilten Narben), hab ich etwas davon der Mutter der Kleinen abgegeben und hab sie unterstützt."
Azucena: „Ich war mal schwanger von diesem Typ. Aber ich hab das Kind verloren, als sie mir die Verletzungen hier zugefügt haben (sie zieht für einen Augenblick die Bluse nach oben und zeigt ihre nackte Brust, über die tiefe Narben laufen). Im Nachhinein ist mir das ganz recht so. Wie wäre es, wenn ich noch ein Kind mehr hätte?! Kinder sind furchtbar, zumal wenn sie dauernd schreien. Das macht einen ganz verrückt."
Junge: „Das sagt sie, die drei Kinder hat und jetzt noch ein viertes erwartet!"
Azucena: „Ich habe sehr früh damit angefangen. Hab nicht darüber nachgedacht, was passieren kann. Dass ich ein Kind bekommen könnte, kam mir nicht in den Sinn. Tja, wenn man 13 Jahre alt ist, da macht man alles wie im Spiel. Das war ein Abenteuer im Versteck, und dann bekam ich Stiven. Der ist jetzt 17. Dann kamen Kevin, der heute fünf ist, und Laura, die wird vier Jahre alt."
Junge: „Obwohl sie schon drei Kinder hat, passt sie nicht auf. Sie benutzt keine Verhütungsmittel. Sie isst, was sie gerade kriegen kann, und nimmt weiter Drogen. Und sie denkt nicht dran, zum Arzt zu gehen, obwohl sie genau weiß, dass sie das nichts kosten würde."
Azucena: „Das alles brauch ich nicht. Ich gehöre nicht zu denen, die krank werden. Ich muss nicht dauernd kotzen, und ich hab auch nicht die absonderlichen Lüste der Schwangeren. Wenn es einmal so weit ist, dann gehe ich zu meiner Großmutter."
Junge: „Ha, sie geht dorthin und lässt andere für ihre Kinder sorgen!"
Azucena: „Ich hab immer gesagt, dass ich keine von denen bin, die Kinder großziehen. Wenn sie anfangen, nach Milch zu verlangen, und wenn sie schreien, dann geht mir das gegen den Strich. Deshalb sorge ich vor und gehe rechtzeitig zu meiner Oma. Die lebt in Apartadó. Dort lasse ich die Kinder. Nach ein paar Tagen mache ich mich wieder aus dem Staub und komme hierher zurück."
Junge: „Diese schwarze Schlampe, der ist alles egal, und sie kümmert sich um nichts."
Azucena: „Was hab ich denn? Der Vater von diesem Letzten (sie zeigt mit dem Finger auf ihren Bauch), der ist ein totaler Versager. Er raucht Basuco. Von dem ist nichts zu erwarten."
Margarita
Sie ist siebzehn Jahre alt, klein, hat fein geschnittene Gesichtszüge, honigfarbene Augen, die sie selten aufschlägt. Ihre Fingernägel sind lang, kunstvoll geformt und metallic-blau gefärbt. Die Ohrläppchen sind mehrfach durchstochen, daran baumeln lange Gehänge und ergänzen den Schmuck, den sie um den Hals und an den Handgelenken trägt. Ihr schmächtiger Körper ist der eines Kindes. Die Hände zittern beständig ein bisschen, zumal wenn sie für eine Zeitlang das Schnüffeln an der Kleberflasche unterbrochen hat.
Mit fünf Jahren musste Margarita ihre Familie verlassen. Unter ihrem Stiefvater, einem aufbrausenden und unberechenbaren Mann, hatte sie schwer zu leiden. Man brachte sie in eine Einrichtung, die von katholischen Ordensschwestern geführt wurde. Später lebte sie auf der Straße. Dort bekommt sie in Abständen Besuch von ihrer Mutter. Beide konsumieren Drogen. Margarital hat zwei Schwestern, sie leben in einer Einrichtung für gefährdete Mädchen. Ihr Bruder ist verschwunden, niemand weiß, ob er noch lebt.
Margarita hat einen Sohn, er heißt Miguel Ángel und ist drei Jahre alt. Die Großmutter kümmert sich um das Kind. Margarita ist wieder schwanger geworden, sie ist jetzt im fünften Monat. Sie spricht gerne von Kindern, die ihr wie ein Gottesgeschenk erscheinen. Schwanger sein und ein Kind gebären - das ist für Margarita das Schönste auf der Welt. Sie hat nichts dagegen, dass ihre Kunden und die Jugendlichen, mit denen sie den Tag auf der Straße verbringt, ihren anschwellenden Bauch betrachten.
Margarita: Was mir Angst macht und geradezu Panik verursacht, wenn ich schwanger bin, ist die Nacht auf der Straße. Um ein Zimmer bezahlen zu können, muss ich arbeiten und Männer empfangen. Auch in diesem Zustand. Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich zu ein paar Pesos kommen kann. Auf der Straße überleben - das ist nicht leicht. Die Leute, die Drogen nehmen und stehlen, können einen im Handumdrehen umbringen. Mein Bruder ist verschwunden. Wir haben keine Ahnung, wo er ist.
Frage: Wenn es so schlimm ist, warum gehst du nicht nach Hause, wenigstens so lange, bis das Kind geboren ist?
Margarita: So einfach ist das Leben nicht. Der Osten von Antioquia, wo meine Familie wohnt, ist sehr gefährlich. Dort bringen die Paracos (Paramilitärs) die Leute um. Überall herrscht Gewalt. Deshalb verlassen die Familien ihre Heimat und geben ihr Land auf, ebenso ihre Häuser und alles, was sie haben. So kommen sie nach Medellín. Sie meinen, dass es ihnen hier besser geht. Und überhaupt: mein Stiefvater ist ein wilder Kerl. Und meine Mutter hilft mir zwar von Zeit zu Zeit, aber sie ist ebenfalls drogenabhängig.
Frage: Weißt du, dass es hier Einrichtungen für schwangere Mädchen und junge Mütter gibt
Margarita: Dahin würde ich gerne gehen. Aber wenn man 17 ist, ist das schwer. Als ich kleiner war, war das leichter. Mit fünf war ich in einer Einrichtung in Rionegro. Aber wenn man 14 ist, setzen sie einen vor die Tür. Meine beiden Schwestern sind immer noch dort. Manchmal besuche ich sie. Die Nonnen sind sehr freundlich. Mir hat es dort gefallen. Ich ging in die Schule. Wir lernten putzen, waschen und kochen, auch Kunsthandwerk, und wir haben das sehr genossen.
Frage: Jetzt bist du wieder schwanger - was denkst du darüber?
Margarita: Kinder sind ein Geschenk Gottes. Man muss sie versorgen und schützen. Sie sind wie kleine Puppen. Wenn man sie allein lässt und nicht versorgt, zerstört man sie und kann sie verlieren. Ich bete immer zum lieben Gott, dass er sie gesund und ohne Mängel zu uns schickt. Die größte Freude bei der Geburt ist der Moment, wenn man das Kind schreien hört und wenn sie es einem zeigen. Zu wissen, dass nichts an ihnen fehlt und sie gesund sind - das macht einen glücklich.
Flor
Nach Monaten fast ununterbrochenen Regens, der den Río Medellín gefährlich anschwellen ließ und im ganzen Land unermessliche Schäden anrichtete, zeigt sich an den Nachmittagen ab Mitte Dezember auf einmal die Sonne. An den letzten Tagen vor Weihnachten sind die obdachlosen Kinder und Jugendlichen, die das Jahr über den Rojas Pinilla Platz bevölkern, auf einmal verschwunden, man weiß nicht, wohin. Nur ein Mädchen sieht man noch, Flor. Ihre Haare sind nass, das Gesicht frisch, als käme sie gerade aus dem Bad. Sie schlendert über den Platz, die Bewegungen ihres Körpers und ihre Haltung ziehen die Blicke der Männer an, die an den Eingängen der Bars und Stundenhotels herumlungern.
Wenn man mit Flor spricht, merkt man rasch, dass sie noch nicht die bei den Straßenjugendlichen übliche Menge Drogen konsumiert. Ihre Kleider sind sauber, die Haut gepflegt. Ihr Arbeitstag beginnt am Spätnachmittag, kurz bevor die Dämmerung hereinbricht. Sie bittet um ein Weihnachtsgeschenk, etwas Geld. Das tut sie zurückhaltend, vornehm, nicht aggressiv fordernd, wie es auf der Straße üblich ist. Sie setzt mehr auf Mitleid: „Ich bin schwanger, bin erst 16 Jahre alt. Meinen Freund haben sie umgebracht, das ist erst ein paar Wochen her. Sie haben ihn beim Stehlen erwischt. Er wollte nur das nehmen, was wir zum Überleben brauchten. Auch haben sie einen meiner vier Brüder ermordet.
Es ist mein erstes Kind. Ich war beim Arzt zur Voruntersuchung. Aber ich weiß noch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Ich bin erst im vierten Monat, deshalb kann man das noch nicht feststellen. Ich bin glücklich darüber, schwanger zu sein. Es soll wie sein Vater werden, obwohl er tot ist. Ich habe ihn geliebt.
Später will ich weiter zur Schule gehen – in Caicedo, der Gegend, wo meine Eltern leben. Ich bin bis zur neunten Klasse gekommen."
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