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Bedrohte Kindheiten

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Didaktik und kindliches Wohlbefinden


Defizit- und Zukunftsorientierung oder Wohlbefinden und Stärken als Ausgangspunkt? Didaktik als Wissenschaft des Lehrens und Lernens beginnt traditioneller Weise bei den Adressaten der Bildung, bei ihren Erfahrungen und Perspektiven, ehe sie sie mit Lerninhalten konfrontiert. Dies gilt in besonderem Maße für Lernangebote an die Adresse gesellschaftlich randständiger Kinder. Bildung muss sich daran messen lassen, ob sie Kindern und Jugendlichen ein erfülltes Leben eröffnen kann. Statt sich primär an den Defiziten und Risikofaktoren ihrer Lebenssituationen zu orientieren, soll sie von der Frage des Wohlbefindens, der Zufriedenheit und der Stärken der Kinder ausgehen und deren alltägliche Wünsche, Bedürfnisse und Interessen erkunden. (So sieht dies auch die neuere internationale Kindheitsforschung vor.)  


Der auf das Wohlergehen von Kindern gerichtete Fokus verhindert, dass Bildungsangebote ausschließlich von Zukunftsperspektiven abgeleitet werden; vielmehr bekommen die Gegenwart und das augenblickliche Lebensgefühl der Adressaten ein besonderes Gewicht. Wohlbefinden ist Ausdruck von Glück und Zufriedenheit mit dem Leben („quality of life", „well-being").


Lebensqualität. Im Blick auf das Dasein von Straßenkindern von „Glück" zu sprechen, mag im ersten Augenblick zynisch klingen.
> Straßenkinder spüren die handfesten Folgen von Armut am eigenen Leib.
> Die Beziehungen zu Eltern, Verwandten und Nachbarn sind nicht belastbar.
> Selten oder nie wird ihnen Wertschätzung entgegengebracht. Autonomie kann sich nicht entfalten, ihre Handlungsfähigkeit ist begrenzt.
> Kaum jemand achtet sie als Person, niemand fragt sie nach ihrer Meinung.
> Selbstlose Zuwendung ist ihnen fremd.
> In der Not sind sie auf sich allein gestellt. Es mangelt an Schutz, Sicherheit ist für sie ein unbekanntes Gefühl.
> Fehlende Achtung und geringe Beachtung unterminieren ihr Selbstbewusstsein.


Worin soll das Wohlbehagen von Kindern bestehen, die, auf sich selbst gestellt, tagtäglich zusehen müssen, wie sie durchkommen? Denen Rückhalt, Förderung und Anregungen fehlen? Die kaum jemals in der Lage sind, das Vertrauen und die Überzeugung zu entwickeln, dass sie Situationen und Dinge selbst beeinflussen und gestalten können? Wie sollten Bildungsangebote dort ansetzen, wo es nichts Positives gibt?


Wer, trotz allem, eine Brücke zwischen Wohlbefinden und Didaktik schlagen will, muss zuerst die Bedingungen ergründen, die es ermöglichen, dass sich junge Menschen zufrieden fühlen können – und sei es nur partiell (vgl. Paul Thierbach: Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie des Glücks. Eine Bestandsaufnahme der Glücksforschung, München 2010). Amartya Sen, der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1998, weist darauf hin, dass entscheidend für die Qualität des Lebens nicht das Einkommen, sondern die Freiheit (oder Möglichkeit) sei, sich zu verwirklichen. Mit Geld kann man nicht alles kaufen. Es ist offensichtlich, dass in reicheren Ländern ein weiterer Zuwachs an finanziellem Wohlstand keineswegs linear zu mehr Wohlbefinden führt. Mehr Geld bedeutet nicht automatisch mehr Glück. Unter der Voraussetzung, dass die materielle Existenz gesichert ist, ist das relative Einkommen für das Wohlbefinden der Menschen wichtiger als das absolute Einkommen.


An den Lebensweisen, die Menschen ermöglicht werden, zeigt sich die Qualität einer Gesellschaft. Was sind die Bedingungen, um ein erfülltes Leben führen zu können? Was ermöglicht, was stützt das Glück des Einzelnen? Was erfüllt sein Verlangen nach Sicherheit? Außer Geld, das der Befriedigung materieller Bedürfnisse dient, gibt es weitere Faktoren, die mittelbar oder unmittelbar Einfluss auf die Lebensqualität nehmen (vgl. Wolfgang Zapf u.a.: Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, 1984). Objektive Faktoren wie Armut, Familienzusammensetzung oder Schulerfolg beschreiben die äußerliche Situation einer Person. Subjektives Wohlbefinden oder Glück, das kognitive und emotionale Komponenten hat, ist gekoppelt an die Möglichkeit, das zu erreichen und zu verwirklichen, was man sich für sein Leben wünscht.


Eine Pädagogik und Didaktik, die beim Wohlbefinden der Adressaten ansetzt, muss die Frage stellen, was dessen Voraussetzungen sind, welche Hindernisse ihm im Weg stehen und was sich ändern muss, damit sich die Lebenszufriedenheit von Kindern und Jugendlichen verbessert (vgl. Layard / Dunn: Good Childhood, 2009).


Forschungen zum Wohlsein von Kindern und Jugendlichen zeigen übereinstimmend auf, welche Bedingungen für das subjektive Glück und die Zufriedenheit grundlegend wichtig sind:
- Gesundheit;
- ein gutes soziales Umfeld;
- stabile soziale, insbesondere gute familiäre Beziehungen;
- persönliche Freiheit und Handlungsmöglichkeiten;
- finanzielle Sicherheit;
- die Möglichkeit einer befriedigenden Arbeit;
- eine menschenwürdige Wohnumgebung;
- soziales Engagement.


Straßenpädagogen werden diese Faktoren mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen und in ihren am Wohlsein des Kindes orientierten Bildungsangeboten alle positiven Elemente im Leben von Straßenkindern aufnehmen, die negativen Faktoren bekämpfen und sich für Maßnahmen einsetzen, die die Teilnahmechancen ihrer Klientel zu erhöhen versprechen.

> Wenn die sozioökonomische Ungleichheit für arme, unter Exklusion leidende Kinder und Jugendliche einen starken Faktor des Unwohlseins bilden, werden Straßenpädagogen als Anwälte der Kinder Möglichkeiten der Abhilfe bedenken und öffentlich für die Interessen der Kinder eintreten.

> Wenn eine unterstützende und liebevolle Familie die wichtigste Voraussetzung einer guten Kindheit darstellt, die Trennung der Eltern und der Verfall der Familie die größten Unglücksfaktoren sind, wird sich Straßenkinderpädagogik mit dem fundamentalen Trauma der verlassenen und verstoßenen Kinder - dem Verlust, dem Verschwinden und der Nichtverfügbarkeit von Mutter und Vater - auseinandersetzen und darauf eingehen.

> Wenn die Möglichkeit, mit Freunden zusammen zu sein, zu spielen und die Zeit gemeinsam zu verbringen, bei Kindern entscheidend für die Lebensqualität ist, wird eine Bildungsarbeit mit Straßenkindern diesen Aspekt aufgreifen und fördern. 

Im nächsten Textabschnitt geht es um die Förderung von Selbstbewusstsein und "Selbstwirksamkeit" von Straßenkindern:
(> Selbstwirksamkeit unter den Bedingungen von Armut)

 

Weiterführende Literatur:

- UNICEF (ed.): Child Poverty in Perspective: An overview of Child-Well-Being in Rich Countries, 2007;

- OECD (ed.): Doing Better for Children, 2009; Hans Bertram: Zur Lage der Kinder in Deutschland. Politik für Kinder als Zukunftsgestaltung, Florenz 2006;

- Hans Bertram: Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder, München 2008;

- Klaus Hurrlemann, Sabine Andresen: Kinder in Deutschland 2010. Die 2. World Vision Kinderstudie, Frankfurt am Main 2010, S. 16.  


Links:

http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Monitor-Familienforschung-Ausgabe-19,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf;

vgl. auch http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/fotomaterial/Kinderarmut/Internationale_Studie.pdf).

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 01.11.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |