
Bedrohte Kindheiten
Verwirklichungschancen-
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Verwirklichungschancen
Ein gutes Leben führen. Bei der Förderung des Wohlbefindens und der Selbstwirksamkeitserwartung von Kindern und Jugendlichen der Straße kann der „Capability"-Ansatz hilfreich sein. Die international diskutierte gerechtigkeitstheoretische Konzeption der „Verwirklichungschancen" ist außer mit dem Namen des Ökonomen Amartya Sen auch mit dem der Philosophin Martha Craven Nussbaum verbunden. Beider Blick ist auf die im Zusammenhang mit dem Thema des kindlichen Wohlbefindens bereits aufgeworfene Frage einer gelingenden Lebensführung gerichtet. Welches sind die Handlungs- und Daseinsweisen, die „positiven Freiheiten", die notwendig sind, um sich für ein erstrebenswertes Leben entscheiden zu können?
„Capabilities" umfassen sowohl Rahmenbedingungen als auch persönliche Fähigkeiten oder Kompetenzen. Amartya Sen definiert sie als Möglichkeiten von Menschen, ein Leben zu führen, „für das sie sich mit guten Gründen entscheiden könnten" (A. Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2000, S. 29). Zu den Verwirklichungschancen gehören individuelle Potenziale (zum Beispiel Einkommen oder Bildungsstand) wie gesellschaftlich bedingte Chancen (zum Beispiel bürgerliche Rechte, Zugang sowie Nutzung von Bildungschancen). Die gesellschaftlichen Bedingungen können die individuellen Potenziale mindern oder verbessern. (Die tatsächlichen Lebensbedingungen nennt Sen „functionings". In Kombination miteinander spiegeln sie die verwirklichten Chancen eines Individuums wider, um beispielsweise soziale Kontakte zu pflegen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.)
Weder Wohlbefinden noch ein gutes Leben können von außen oktroyiert werden. Vielmehr entscheidet darüber jeder Einzelne, der nach seinem Wohlergehen und seinem Glück strebt und Leid zu vermeiden sucht. Aber die Gesellschaft muss Bedingungen schaffen, die es Individuen erlauben, ein gelingendes Leben zu führen (vgl. Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt am Main 1999, S. 24).
Grundbefähigungen. Martha Nussbaum (vgl. Woman and Human Development, Cambridge 2000, p. 88) hat die fundamentalen Bedingungen für eine gute Lebensführung zusammengefasst. In einer Liste nennt sie die wesentlichen menschlichen Grunderfahrungen und leitet daraus Befähigungen ab, die man zur Verwirklichung eines gelingenden Lebens braucht. Neben der Ausbildung spezifischer körperlicher Konstitutionen und sensorischen Fähigkeiten (als Basisbefähigungen) nennt sie zum Beispiel grundlegende Kulturtechniken, das Denkvermögen und die praktische Vernunft, die Fähigkeit, Bindungen mit anderen Menschen einzugehen, sowie Autonomie und Subjektivität (als interne Befähigungen). Zur Realisierung der internen Befähigungen muss ein geeigneter institutioneller und materieller Rahmen vorhanden sein.
Fähigkeiten als Bildungsziele der Straßenkinderpädagogik
(nach Martha Nussbaum; siehe Wikibooks ad voc. Verwirklichungschancen/Grundbefähigungen: http://de.wikibooks.org/wiki/Verwirklichungschancen/_Grundbef%C3%A4higungen_bei_Martha_Nussbaum).
Grunderfahrungen / Wesensmerkmale
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Grundbefähigungen
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Fähigkeiten
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Sterblichkeit
Menschen wissen um ihre Sterblichkeit.
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Leben
Menschen führen ein lebenswertes Leben.
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Kinder und Jugendliche der Straße werden befähigt, über sich selbst und ihre Lebenssituation nachzudenken („Wer bin ich?" „Woher komme ich?" Wo will ich hin?") und ihre Weltanschauung (Religiosität) kritisch zu reflektieren.
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Körperlichkeit
Menschen brauchen Nahrung, einen gesunden Körper, Schutz vor Kälte und Übergriffen.
Sie haben sexuelles Verlangen und wollen beweglich und mobil sein.
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Körperliche Integrität
Sie sind ausreichend ernährt und erfreuen sich guter Gesundheit.
Sie haben eine angemessene Wohnung und sind gegen Gewalt und Übergriffe geschützt.
Sie können sich sexuell befriedigen und fortpflanzen.
Sie können ihren Aufenthaltsort wechseln.
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Sie können zwischen gesunder und ungesunder Ernährung unterscheiden.
Sie kennen die auf der Straße verbreiteten Krankheiten, deren Verursachung und Symptome sowie Maßnahmen zu ihrer Verhinderung und Bekämpfung.
Sie analysieren die historischen, politischen und kulturellen Gründe und die Folgen von Vertreibung und Obdachlosigkeit, deren Opfer sie selbst sind.
Sie denken darüber nach, was Kommunikation, Interaktion und Freundschaft fördert und was sie beeinträchtigt.
Sie kennen die Bedeutung von Sexualität und deren mögliche Folgen. Sie wissen über Mittel der Verhütung Bescheid.
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Freude und Schmerz
Alle Menschen empfinden Freude und Schmerz, wenn auch je nach Kultur unterschiedlich.
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Erfahrung von Gefühlen
Menschen haben die Fähigkeit, unnötigen Schmerz und Traumata zu vermeiden und freudvolle Erfahrungen zu machen.
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Sie können ihre eigenen Gefühle bewusst ausdrücken. Gefühle von Trauer, Schmerz oder Freude bei anderen nehmen sie wahr und können darauf empathisch reagieren.
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Vorstellungen und Denken
Mittels Wahrnehmung, Vorstellungen und Denken orientieren sich die Menschen in der Welt.
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Kognitive Fähigkeiten
Menschen haben die Fähigkeit, sich ihrer Sinne, ihrer Phantasie und ihrer intellektuellen Fähigkeiten zu bedienen. Sie haben Zugang zur Bildung.
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Sie entdecken ihre eigenen intellektuellen und kreativen Fähigkeiten und wissen sie anzuwenden. Sie haben genug Selbstvertrauen, um ihren Phantasien offen Ausdruck zu geben.
Sie zeigen diejenigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Bereichen Muttersprache, Mathematik und Lebenskunde, die notwendig sind, um an die formale Schullaufbahn Anschluss zu finden.
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Frühkindliche Entwicklung
Allen Menschen ist gemein, dass sie sich aus bedürftigen, abhängigen Wesen zu eigenständigen Personen entwickeln.
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Vertrauen
Menschen werden fähig zu Liebe, Trauer, Dankbarkeit und Sehnsucht. Sie können sich an Personen, Tiere oder Dinge binden.
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Sie sind mutig genug, anderen Menschen offen zu zeigen, was sie für sie empfinden.
Sie sind fähig, dauerhafte Beziehungen zu anderen einzugehen.
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Praktische Vernunft
Zum menschlichen Leben gehört es, Situationen
zu bewerten und Handlungen zu planen.
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Vorstellung des Guten
Menschen werden fähig, eine Vorstellung des guten Lebens zu entwickeln, ihr Leben danach zu planen und es kritisch zu reflektieren.
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Sie sind fähig, realistische Zukunftsperspektiven zu entwickeln und ihren Lebensplan zu verteidigen.
Sie können Aufschluss geben über die Bedeutung von Ethik und Moral im eigenen Leben wie im Leben der Gesellschaft.
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Verbundenheit mit anderen Menschen
Menschliches Leben ist immer auf andere bezogen. Jeder benötigt Anerkennung, Anteilnahme und Mitleid.
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Sozialität
Menschen entwickeln die Fähigkeit zu Interaktion, Freundschaft, Identifikation mit anderen und zu deren Achtung.
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In der Kommunikation sind sie fähig, Anerkennung für andere auszudrücken, gleichzeitig aber auch Anerkennung für sich selbst einzufordern. Sie sind bereit, anderen Achtung entgegenzubringen und zeigen, dass sieauch selbst geachtet werden wollen.
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Verbundenheit mit der Natur
Notwendigkeit, mit der Natur und anderen Lebewesen pfleglich umzugehen.
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Ökologie
Menschen werden fähig, in Beziehung zur Natur, den Pflanzen und Tieren einzugehen.
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Sie kennen die Verpflichtung aller Menschen, Natur, Pflanzen und Tiere zu pflegen und zu versorgen, und sie verstehen es, dieser Forderung in der eigenenLebenswelt nachzukommen.
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Humor und Spiel
Humor und Spiel gehören zum Wesen des Menschen.
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Freizeitgestaltung
Menschen sind fähig, zu lachen, zu spielen, sich zu erholen.
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Es gelingt ihnen, Räume des Spiels, der Entspannung und des Humors innerhalb ihres Alltags zu eröffnen.
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Getrenntsein
Jeder Mensch hat als Individuum eigene Gefühle, Merkmale und Selbstachtung. Er grenzt sich von anderen ab und unterscheidet „mein" und „nicht mein".
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Vereinzelung
Menschen haben die Fähigkeit, ihr eigenes Leben, nicht das eines anderen, zu leben. Sie gestalten ihr Leben durch eigene Leistung, nehmen Bürgerrechte wahr und verfügen über ihr Eigentum.
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Kinder und Jugendliche der Straße sind trotz aller Einschränkung und Bedrohung fähig, sich als Individuen mit je eigenem Wert zu verstehen. Sie treten für dieses Recht ein und sind bereit, dafür zu kämpfen.
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