Bildung und Biographie
Wer bin ich? Bildung und Biographie sind miteinander verzahnt. Kinder lernen in Abhängigkeit von biographischen Situationen und Prozessen. Bildungsangebote, die sich an der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen der Straße im Hier und Jetzt orientieren, berücksichtigen mit der Perspektive der Adressaten auch deren Lebensschicksale. Straßenpädagogik ist nicht nur Wissensvermittlung, sondern Lebensbegleitung.
Biographien sind individuelle Lebensgeschichten, die den Lebenslauf, die äußeren gesellschaftlichen Ereignisse und Umstände, aber auch die seelische Entwicklung einzelner Menschen miteinander verbinden. Die Beschäftigung mit den Schicksalen von Straßenkindern fördert das Fremdverstehen von Straßenpädagogen. Lebenserinnerungen bewirken gleichzeitig einen Zuwachs an Selbstverstehen des Erzählers. In diesem Prozess erwerben Straßenkinder die Fähigkeit, sich über ihre eigene Biographie Rechenschaft zu geben. Biographisches Erzählen ist Selbstvergewisserung. Biographieorientierte Bildung ist die grundlegende Kompetenz, die Straßenkinderpädagogik vermitteln kann.
Ziel der Straßenkinderpädagogik ist es, dass sich Straßenkinder selbst als Personen und Individuen denken können. Kinder und Jugendliche der Straße werden zu der Frage angeregt: Wer bin ich? Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin? Die Auseinandersetzung mit diesem Thema verlangt nach der Vorstellung des Lebens als einer Einheit. Die Lebensgeschichte einer einzelnen Person gewinnt Gestalt in der Lebenserzählung. Die Realität des Lebens ist in Wirklichkeit vielfältig, zerklüftet und widersprüchlich. Vor diesem Hintergrund ist die Konstruktion einer kohärenten Lebensgeschichte eine Aufgabe, die erst geleistet werden muss.
Eine der wesentlichen Absichten der Straßenkinderpädagogik besteht darin, die Wucht kritischer Lebensereignisse aufzugreifen und abzufedern. Die eigene Biographie kann als Ressource für die aktuelle und für die zukünftige Lebensgestaltung dienen. Dabei spielen die Ereignisse und Gefahren, die man überstanden hat, eine wichtige Rolle. Von der Verarbeitung der Lebensereignisse können wichtige emotionale und kognitive Impulse ausgehen. Lernerfahrungen, die in der Lebensgeschichte erworbenen wurden, machen Mut für Veränderungen. Straßenkinder wissen meist von Vorkommnissen, Herausforderungen und Abenteuern zu erzählen, die sie nur durch Behändigkeit, praktische Intelligenz und Kreativität meistern konnten.
Lebensgeschichtliche Gespräche. Bei der Aufarbeitung der Biographien von Straßenkindern können Erfahrungen und Methoden der Biographieforschung für die praktische Straßenkinderpädagogik hilfreich sein. Wie im Prozess der ethnographischen Annäherung an die Lebenssituationen von Straßenkindern werden die Lebensgeschichten der Mädchen und Jungen von Straßenpädagogen in lebensgeschichtlichen Gesprächen mit niedrigem Standardisierungsgrad erschlossen. Daran anschließende Gespräche können sich auf bestimmte Themen zentrieren.
Aufgabe des Straßenpädagogen ist es, Jungen und Mädchen der Straße zu bewegen, Erinnerungen zu erzählen und nachzuerleben. Der Alltag hält für die biographische Kommunikation reichlich Anlässe bereit. Vor dem Gespräch muss der Straßenpädagoge eine Situation und Atmosphäre schaffen, die für die Begegnung und den Austausch passend und angenehm sind. Die gegenseitige Wertschätzung der Gesprächspartner ist Bedingung fürs Gelingen. Die Begegnung steht unter den Bedingungen von Freiwilligkeit, Schweigepflicht und Anonymität. Sie erfordert vom Erwachsenen professionelle Kompetenz und freundliche Distanz.
- Die Lebenserzählung kann sich entlang der Lebenslinie bewegen. So werden Phasen der Biographie und lebensgeschichtliche Einschnitte sichtbar. Das Gespräch folgt dem chronologischen Ablauf des Lebens. Die Ereignisse finden ihren Platz in einer Zeitleiste, die die Jahreszahlen und die Lebensjahre des Gesprächspartners markiert.
- Der Straßenpädagoge kann sich auch ganz auf das Erzählschema des Straßenkindes einlassen. Dann stehen im Mittelpunkt des Gesprächs die dem Kind relevant erscheinenden Lebenserfahrungen. Sie halten sich nicht unbedingt an eine chronologische Abfolge.
- Das Gespräch kann sich auch auf die menschlichen Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen und Wohnen, ihre Befriedigung und charakteristische Defizite beziehen, wobei kontrastierende Vergleiche mit den Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen in anderen Milieus aufschlussreich und präzisierend sind.
- Charakteristisch für das Leben auf der Straße sind die Unstetigkeit und Nichtplanbarkeit der Bewegung im öffentlichen Raum. Straßenkinder verlassen den nahen sozialen Raum der Kindheit und der Familie und bewegen sich im weiten sozialen Raum, der eigentlich für Erwachsene vorbehalten ist. Das lebensgeschichtliche Gespräch über den sozialen Raum bezieht sich auf Aufenthalts- und Handlungsorte, gesellschaftliche Plätze, Straßen und Unterkünfte, die mit unterschiedlichen Gefühlswerten der Straßenkinder verbunden sind.
Fragestellungen. Findet das Gespräch in Anlehnung an die Methode des narrativen Interviews statt, so besteht die Absicht, dass der Befragte seine Lebenserzählung ohne Unterbrechung, ohne Kommentare und ohne Bewertungen vorträgt. Später kann – durch narratives Nachfragen - Unklares geklärt, Fehlendes ergänzt, Widersprüchliches erzählend erläutert werden. Das Gespräch endet damit, dass der Befragte seine Aussagen argumentativ und abstrahierend bilanziert.
Hält sich der Straßenpädagoge an die Methode des biographischen Interviews, so wird sich das Gespräch auf wirklich relevante Ereignisse im Leben des Kindes oder Jugendlichen konzentrieren. Der Befragte wird nicht nur erzählen, sondern auch argumentieren, legitimieren und bewerten, weil es um den Sinn der erzählten Lebensphasen und ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft geht. Ziel ist es, Lebenserfahrungen in der Biographie aufzuspüren.
In der Lebenserzählung werden Erfahrungen erinnert, die im Lebensprozess entstanden sind. Lebenserfahrungen sind Erkenntnisse, gewonnen in der Auseinandersetzung mit der Welt. Die Erinnerung macht sie zugänglich, die Lebenserzählung aktualisiert sie. Lebenserfahrungen sind der Vergangenheit verhaftet, aber der Zukunft zugewandt. Wenn das Straßenkind im Hier und Jetzt von seinem vergangenen Leben erzählt, äußert es seine Erfahrungen als Erwartung. Die Zukunft steht auf dem Spiel. Es ist die vornehmste Aufgabe der Straßenpädagogik, den Weg des Erinnerns bis zur Erfahrung zurückzuverfolgen und ihn in Besinnung einmünden zu lassen.
Um zu erfahren, was dem Jungen oder Mädchen der Straße die eigene Lebensgeschichte bedeutet, wird der Straßenpädagoge nach den biographischen Prozessverläufen fragen. Wie fing diese oder jene Phase an? Wie hörte sie auf? Was geschah zwischen dem jeweiligen Endpunkt und einem neuen Anfang? Immer handelt es sich um äußere und innere Ereignisse, die miteinander verknüpft sind, um Vorgänge und Erfahrungen. Das Ergebnis ist eine Erzählung über den sozialen Prozess der Entstehung und des Wandels einer biographischen Identität - derjenigen eines jungen Straßenbewohners. Die Inhalte der Geschichte sind Lebensstationen, Ereignisverstrickungen, Wendepunkte, Wandlungen sowie die Entscheidungen und Handlungen des Befragten.
(Vgl. Th. Schulze: Interpretation von autobiographischen Texten, in: B. Friebertshäuser u.a. (Hg.): Handbuch qualitativer Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft, Weinheim/München 1997, S. 323ff. Imbke Behnken u.a. (Hg.): Kinder – Kindheit – Lebensgeschichte, 2001; Fritz Schütze: Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis 3 (1983), S. 283-293)
Der nächste Textabschnitt handelt von den Chancen des Erzählens:
(> Lebensgeschichten erzählen)
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