Amerika
- Carlos Ramírez
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Carlos - überleben auf der Straße
“Guten Tag. Mein Name ist Carlos Ramírez Mosquera. Ich komme aus dem Chicó. Ich bin Straßenbewohner (“habitante de la calle”). Als ich 10 Jahre alt war, starb meine Mutter. Aus diesem Grund lebte ich fortan im Haus meines Vaters, das heißt, im Haus meiner Stiefmutter. In dieser Familie wurden die Kinder misshandelt, zumal ich, der neu dorthin gekommen war. Ich war erst zehn, als ich das Haus wieder verließ. Ich hielt es dort nicht mehr aus. Die vielen Beschimpfungen trafen mich im Herzen, vor allem, wenn sie mich auf schlimme Weise an meine Mutter erinnerten. Die Misshandlungen durch meine Stiefmutter ließen mir keine Wahl. Ich kam nach Medellín. Hier kannte ich niemanden. An der Autostraße (Autopista de Medellín) lernte ich eine Familie kennen, dort lebe ich noch immer.
Ich bin Straßenbewohner und habe gelernt, auf der Straße zu überleben, Gott sei Dank. Ich habe dort gelebt, wo die wenigsten leben möchten, und habe gegessen, was die meisten nicht essen möchten. Ich habe das Straßenleben aufgegeben, weil ich es mir vorgenommen habe. Die Straße verlassen, ist nicht leicht. Es ist ein Ziel, das einem viele vorschlagen und ein Weg, der den wenigsten gelingt. Ohne die geringste Ahnung kam ich in diese Stadt, als kleiner Junge, bereit, Drogen zu konsumieren, misshandelt zu werden, zur Prostitution verführt zu werden, zu lauter Dingen, an die man sich gewöhnen muss, wenn man auf der Straße lebt. Ich habe Marihuana geraucht, Kleber geschnüffelt, die “perica” war mir ein großer Genuss, aber auch die “pepa” und Extasy. Gott und den Rehabilitationszentren, dem “Patio Don Bosco”, der “Ciudad Don Bosco”, dem “Centro de Acogida”, den “Hogares Claret” und anderen Netzwerken, die den Straßenbewohnern helfen, habe ich es zu verdanken, dass ich davon losgekommen bin.
Hier neben mir – das ist mein Freund. Wir verbringen zusammen viel Zeit auf der Straße. Wir müssen auf der Straße schlafen, und wir konsumieren dieselben Drogen. Die Straße zu verlassen, ist schwer. Es ist ein Ziel, das du dir selbst steckst. Wenn du dir etwas vornimmst, was du nicht verwirklichst, warum nimmst du es dir dann vor? Es ist wie eine Methode, damit die Leute, die das sehen, sagen: Ja, man kann es schaffen. So motivierst du sie. Nichts ist unmöglich, man kann es schaffen.
Ich kam ganz ahnungslos in diese Stadt. Vier Monate lang lebte ich in Poblado, auf einem Gelände, das Pablo Escobar gehörte. Ich sammelte Müll. Dort traf ich einen Jungen, der mich mit nach Hause in seine Familie nahm. Wir waren beide Müllsammler, und wir aßen die Reste aus den Abfalltonnen, wir aßen, was die Leute wegwarfen. Die Ausbeute aus dem Müll verkauften wir an den Sammelstellen im Zentrum.
Eines Tages – wir waren sehr müde von der Arbeit – kam eine Gruppe von Straßenpädagogen vorbei. Sie sagten, es gebe speziell für uns einen Platz, wo wir wohnen, essen und eine Ausbildung machen könnten, dort würden wir alles Nötige bekommen. Ich entschloss mich, hin zu gehen. So trat ich in die “Hogares Claret” in Medellín ein. Das ist eine therapeutische Einrichtung, wo sie die Jugend der Zukunft formen. Dank dieser Straßenpädagogen bin ich heute der, der ich bin. Ihnen habe ich zu verdanken, dass ich Schiedsrichter beim Fußball bin. Ich weiß viele Dinge, von denen die meisten keine Ahnung haben. Dank der Seele meiner Mutter bin ich weit gekommen, und ich werde noch viel weiter kommen.
Die Stadt ist ein Dschungel aus Zement. Wenn du nicht aufpasst, verschlingt er dich. Dir bleiben lediglich drei Optionen: der Tod, das Krankenhaus oder das Gefängnis. Denn hier kann man nur von der Prostitution, von Raub und Diebstahl oder von der Bestechung überleben. In diesen Zenemtdschungel geraten viele hinein, und wenige kommen wieder heraus. Gott verdanke ich, dass ich mich nicht habe vereinnahmen lassen: Ich bin ein Beispiel dafür, dass man überleben kann.”
(Interview mit Carlos im April 2012, Metrostation El Prado)
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