Amerika | Afrika | Asien | Europa | Australien | Bedrohte Kindheiten | Publikationen | Projekte | Medien

Suche:   


Bedrohte Kindheiten

Kompetenzen von jungen Erwachsenen in Deutschland und Südafrika
(Maren Behnert, November 2011)

Einleitung
Forschungsergebnisse
Kritische Reflexion
Unterschiede zwischen Deutschland und Südafrika


Einleitung
Welche Kompetenzen zeigen Jugendliche in riskanten Lebenslagen? Dieser Frage ging das Forschungsprojekt „Kompetenzen von jungen Erwachsenen in besonderen Lebenslagen mit dem Lebensmittelpunkt Straße in Deutschland und Südafrika" (Masterarbeit Maren Behnert) nach. Die Ergebnisse der empirischen Studie, in der 200 von jungen Erwachsenen auf der Straße selbst aufgenommen Fotos analysiert wurden, sollen im Folgenden kurz beschrieben und dargestellt werden.
Junge Erwachsene in besonderen Lebenslagen handeln kompetent. Sie zeigen Kompetenzen auf den vier Ebenen der Handlungskompetenz (personale, soziale, fachliche und methodische Kompetenz). Zu diesen Teilkompetenzen lassen sich Subkompetenzen. Diese wurden in der vorliegenden Arbeit weder überprüft noch auf ihre Generalisierung oder Universalität hin untersucht. Tabellarisch werden die einzelnen Subkompetenzen aufgeführt, die sich alle auf die jungen Erwachsenen in besonderen Lebenslagen in Deutschland und Südafrika beziehen.

Forschungsergebnisse:

 

Teilkompetenz von Handlungskompetenz

Formulierung Subkompetenzen

 

Die jungen Menschen…

soziale

empfinden Nähe, suchen Nähe

entwickeln milieuspezifische Kommunikationsmuster (Handzeichen, Pfiffe, Kodes etc.)

entwickeln soziales Bewusstsein innerhalb ihrer Peer Group

erkennen allgemeine Werte an

erleben Zufriedenheit

fühlen sich einer Gruppe zugehörig

führen gemeinsame Aktivitäten durch

haben eine Vorstellung von gelingendem Leben

kooperieren innerhalb der Peer Group

sind empathiefähig

sind motiviert, sich selbst in Szene zu setzten, darzustellen

übernehmen Verantwortung für sich und andere (auch Tiere = Hunde)

vertreten selbstbewusst eigene Kultur und Herkunft

wechseln gezielt Verhaltensmuster/Rollen zur Lebensunterhaltsbeschaffung

zeigen sich motiviert, entwickeln Interesse

zeigen sich selbstbewusst

zeigen/entwickeln Achtung vor anderen/Werten

methodische

gehen flexibel auf sich bietende Möglichkeiten ein

handeln zweckorientiert

inszenieren sich in ihrer Lebenswelt

kennen für die jeweilige Arbeit angebrachte Kleidung

kennen Methoden der Beschaffung von Drogen

kennen Methoden der Beschaffung von sicherer Behausung

kennen Methoden der Lebensunterhaltsbeschaffung (anschaffen, betteln etc.)

nutzen vorhandene Technologien gezielt für Überleben/Feizeitgestaltung

sind motiviert, sich selbst in Szene zu setzten, darzustellen

streben nach Kompetenzerleben und Einkommen

wenden Methoden (sich warm halten) gezielt an

wenden vorhandene Kulturtechniken gezielt zur Alltagsbewältigung an

fachliche

eignen sich Wissen und Methoden über Erfahrungen gezielt an

entwickeln individuelle Strategien zur Problemlösung

kennen die Wirkung und Zubereitung von Drogen

kennen für die jeweilige Arbeit angebrachte Kleidung

kennen Methoden und Orte der Erwerbstätigkeit

kennen Methoden und setzten Kulturtechniken gezielt zur Erwerbstätigkeit ein

wenden Methoden (Feuermachen) gezielt an

wissen um Zubereitung von Nahrung

wissen wie man Feuer macht

zeigen bewusst historisches Wissen/Bewusstsein (Deutschland)

personale

eignen sich (Überlebens-)Räume an

entwickeln eigenen kreativen Kleidungsstil/Mode

entwickeln ein Bewusstsein für ihre Lebenslage als vorübergehender Zustand, den es zu überwinden gilt

entwickeln individuelle Strategien zur Problemlösung

erkennen andere Werte und Regeln an

fühlen sich einer Gruppe zugehörig

gehen kreativ und flexibel mit vorhandenen Ressourcen um

haben Bewusstsein für entspannte Momente im Alltag

haben eine Vorstellung ihres Tagesablaufes, setzen sich Ziele orientiert an ihren Bedürfnissen

haben eine Vorstellung von gelingendem Leben

haben konkretes Verständnis von Erwerbstätigkeit

halten Ordnung

identifizieren sich mit bestimmter Lebensweise

identifizieren sich mit einer Kultur/Heimat/Vorbild

kennen "unterstützende" Wirkung von Drogen

kennen Orte der Sicherheit und des Schutzes

können sich vor Kälte (Gefahr) schützen

orientieren sich an gesellschaftlich anerkannten Vorbildern

passen sich (jeder Zeit) ihrem Umfeld flexibel an

passen sich den bestehenden Lebensbedingungen flexibel an

planen gezielt günstigen und zügigen Lebensunterhalt

richten sich wenn möglich wohnlich ein

sind fähig innerhalb der Peer Group zu kommunizieren

sind motiviert und zeigen Interesse

sind trotz widriger Umstände zur Körperhygiene fähig (vor allem SA)

sind zur selbstständigen Lebensführung in der Lebenswelt Straße fähig

suchen jederzeit nach Möglichkeiten zu überleben

treffen eigenständig Entscheidungen

übernehmen Verantwortung für sich und andere (auch Tiere = Hunde)

wechseln gezielt Verhaltensmuster/Rollen zur Lebensunterhaltsbeschaffung

widerstehen und trotzen das Menschsein bedrohliche Lebenslagen

zeigen Zufriedenheit

 

 

Kritische Reflexion und Überprüfung
Was haben die vorgestellten Hypothesen tatsächlich mit Kompetenzen zu tun? Die Kompetenzformulierung muss für eine didaktische Konzeption überarbeitet und standardisiert werden. Diese Ergebnisse dürfen nur als Ist-Stand-Erhebung betrachtet werden, sind nicht zu generalisieren und damit nicht repräsentativ. Die Hypothesen beziehen sich momentan nur auf in Südafrika und Deutschland gemachte Beobachtungen und Datenanalysen. Nachfolgeuntersuchungen müssen die Hypothesen erst überprüfen und intensiver untersuchen.

Bei der Untersuchung standen Kompetenzen, nicht Defizite im Fokus. D.h. zum einen, dass die hier formulierten Hypothesen nicht auf jeden einzelnen jungen Menschen im vollem Umfang und universell auf alle Jugendlichen mit dem Lebensmittelpunkt Straße zu übertragen sind. Zum anderen schließen sie nicht Defizite aus, die hier jedoch nicht untersucht wurden und damit auch nicht dargestellt werden. Deutlich wird, dass vor allem auf der Ebene der personalen Kompetenz differenzierte Aussagen getroffen werden können. Milieuspezifisch zeigen sich die jungen Mensen auf der methodischen und fachlichen Ebene sehr kompetent, aber auch im sozialen Bereich.

Bezogen auf den Lebensmittelpunkt Straße sind die jungen Menschen im hohen Maße handlungskompetent. Es zeigt sich durch die besondere Ausprägung der personalen Kompetenz, dass sie individuelle und persönliche Lösungsstrategien für ihr Überleben auf der Straße entwickeln.

Kompetenzen im gesellschaftlichen Bereich (z.B. bezüglich eines geregelten Berufslebens), konnten weniger beobachtet werden. Diese gilt es gezielt zu fördern.
Zeitmanagement
Pünktlichkeit
Konfliktlösung
Selbstregulation etc.
Um mit Löwisch (2000) zu argumentieren, sind Kompetenzen ersten Grades bei allen jungen Menschen zu beobachten. Mit der Ergänzung durch gezielte Förderung des gesellschaftlich anerkannten bzw. sozialen Kompetenzerwerbs können auch Kompetenzniveaus zweiten Grades erreicht werden.
Die jungen Erwachsenen aus Johannesburg, Benoni und Dresden nehmen die Anforderungen in den Blick, die jeden Tag aufs Neue auf sie zukommen, denen sie auf sich allein gestellt gewachsen sein müssen, um zu überleben. Aus diesem Grund sind vornehmlich Kompetenzen auf der personalen Ebene ausgeprägt, die unterstützt durch methodische und fachliche Kompetenzen ein Überleben auf der Straße möglich machen.
In besonderen Lebenslagen, die meist weit entfernt der Sozialisationsorte Schule und Familie stattfinden, werden Kompetenzen informell erworben und zählen somit zu den sogenannten heimlichen Kompetenzen. Der Erwerb der Straßenkompetenzen besteht aus dem Erfahrenlernen (vgl. Klafki (1985) und Europäische Kommission (2005), S. 3).
Empirische Studien wie diese können über Beobachtung die besonderen Lösungsstrategien und Ressourcen beschreiben. Ziel dabei ist eine Integration der Kompetenzen in ein nachhaltiges Bildungsangebot zur Förderung der Verwirklichungschancen, des Wohlbefindens und der Selbstwirksamkeit benachteiligter junger Menschen.

Ein weiteres Ergebniss der Untersuchung sind Alltagsbereiche, die die Fotos nicht darstellen, die nicht thematisiert werden. Diese sind: Körperhygiene (wie und wo), Sex (Prostitution), Gewalt, Kriminalität, Verletzung, Krankheit und Tod. Daraus ergibt sich folgende Hypothese: 

Die jungen Menschen zeigen, dass sie ihr Leben meistern, stellen sich nicht unglücklich, „nackt" oder hilflos, sondern stark, überlegen und kompetent dar. Aufgrund der Ähnlichkeit der Darstellungen und Themen zwischen Südafrika und Deutschland wird von einer weiteren Hypothese ausgegangen. Die Kompetenzen sind zu einem großen Teil „cultural free". Kulturspezifische Unterschiede ergaben sich vor allem in der Tatsache, dass die deutschen Jugendlichen Hunde bei sich haben, somit in diesem Bereich (Versorgung, Verantwortung) weitere Kompetenzen aufweisen. Die südafrikanischen Jugendlichen legten mehr Wert auf Körperhygiene, Sauberkeit und ordentliche Kleidung, wiesen in diesem Bereich differenziertere Kompetenzen vor.

Am ehesten lassen sich die herausgefundenen Subkompetenzen als sogenannte Alltagskompetenzen beschreiben, die milieuspezifisch besonders stark und differenziert ausgeprägt sein können. Diese Alltagskompetenzen werden in einer anderen Lebenswelt, die der Mehrheitsgesellschaft, unter Umständen hinfällig. Hierin sieht die Verfasserin eine der Schwierigkeiten der erfolgreichen Integration der jungen Menschen in die Gesellschaft. Das individuelle Kompetenzerleben und die jahrelange praktizierte Autonomie werden negiert, die Grundmauern der Persönlichkeit des erfahrenen jungen Menschen erschüttert. Die Straßenkinderpädagogik bietet eine riesige Chance, hierin Abhilfe zu leisten, wenn sie sich bewusst an den milieuspezifischen Subkompetenzen orientiert und den jungen Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße zur eigen- und sozialverantwortliche Lebenserhaltung, -führung und -gestaltung innerhalb der Gesellschaft befähigt.

Herausgefunden werden konnten Dimensionen von Überlebenskompetenz im Sinne besonderer Lösungsstrategien von jungen Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße. Auch wenn diese Studie keinen Vergleich zwischen Straßenkindern in Südafrika und Deutschland vorsieht, soll an dieser Stelle dennoch kurz auf mögliche eindeutige Unterschiede eingegangen werden.


Unterschiede zwischen Deutschland und Südafrika

Kategorien

Südafrika

Deutschland

Arbeit und Bildung

Identifizieren sich bewusst mit formaler Schulbildung

 

Auf der Straße

Kleiden sich milieuspezifisch modisch, dennoch der Mehrheitsgesellschaft angelehnt; Körperhygiene/Sauberkeit wann immer es geht

Ungepflegtes Erscheinungsbild, in Punk Szene bewusst von der Mehrheitsgesellschaft abgesetzte Mode

Drogen

Keine erkennbaren Unterschiede

Essen

 

Essen selten Abfallreste oder auf Müllhalden; kaufen sich Essen

Freizeit

Keine erkennbaren Unterschiede

Freunde, Familie

Haben öfter noch Kontakt zur Familie

Haben weniger Kontakt zur Familie

Ich und Selbstdarstellung

 

Leben teilweise freiwillig auf der Straße, um Wohlstandsgesellschaft zu entgehen; leben nach einer Ideologie/Philosophie, fühlen sich historischem Bewusstsein zugehörig

nachts

Übernachten auf der Straße

Wohnen bei Freunden oder Verwandten, übernachten selten auf der Straße, verbringen aber die meiste Zeit auf der Straße

Normales Leben

Identifizieren sich vor allem mit Werten, Symbolen und Status der Mehrheitsgesellschaft (Haus, Auto, Familie, geregelter Job etc.)

Szene (Punks), teilweise bewusst gegen Lebensstil der Mehrheitsgesellschaft; direkte Provokation und Zerstörung von Statussymbolen

schlafen

Übernachten meist über den gesamten Zeitraum des Aufenthaltes auf der Straße, manchmal in besetzten Häusern oder bei Freiern bzw. Zuhältern

Viel seltener dauerhaft auf der Straße, in Hartz VI Wohnungen, bei Freunden, wechselnd in verschiednen Unterkünften

„Provokation" als weitere Kategorie

Eine provokative und ablehnende Tendenz gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zeigt sich sehr selten. Mitunter werden Passanten bewusst erschreckt, das Image der Straßenkinder von ihnen selbst aufgedrängt

u.a. Punk bewegen, verhalten sich contra der Mehrheitsgesellschaft: Sprüche, Kleidung, Haarschnitt, Hunde, öffentliche Aufmerksamkeit, Lautstärker, Musikstil etc.

Auffällig waren Fotos von Kothaufen der Hunde aber auch der Jugendlichen selbst, Nahaufnahmen von Naseninnenseiten, Rachen sowie entblößte Geschlechtsteile

 

Wie kann und soll die Pädagogik der Straße auf diese Kompetenzen eingehen? Der Versuch einer Modellierung von Kompetenzmodulen der Straßenkinderpädagogik, der nur skizziert werden soll, da er seinem Umfang nach Teil einer eigenständige Forschungsarbeit ist, könnte wie folgt aussehen: Straßenkinderpädagogik versucht mit der Kompetenzorientierung die Differenz zwischen der Erfahrung der jungen Menschen und dem gesellschaftlich geforderten Wissen und Können zu überwinden Eine mögliche methodische Vorgehensweise könnte die Modularisierung von Kompetenzen sein. D.h. der einzelnen Kompetenz werden inhaltliche Module des Kompetenzerwerbs zugewiesen. Die Inhalte werden dabei der lebensweltlichen Erfahrung der jungen Menschen entnommen, die bereits erworbenen Kompetenzen sinnvoll einbezogen. Milieuspezifische Fachkompetenzen werden um „gesellschaftliche Kompetenzen wie Toleranz und Demokratiefähigkeit ergänzt" (Deinet/Ickling in Deinet (2005), S. 65). Die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung des Lernprozesses, die charakteristisch für eine Lebensführung auf der Straße aber auch der modernen pluralisierten Gesellschaft sind, werden berücksichtigt


Der Konzeption eines Bildungsangebotes muss eine Erhebung des „Lernstandes" des Individuums vorausgehen. Dabei können Ressourcen, Kompetenzen und Berufs- bzw. Bildungswünsche explizit erfragt werden. Die in dieser Arbeit generierten Hypothesen zu Kompetenzen von Jugendlichen mit dem Lebensmittelpunkt Straße zeigen, dass Fähigkeiten alleine nicht ausreichen, an der Gesellschaft teilzunehmen, sind diese nicht als solche anerkannt bzw. fehlen Aktionsräume, diese einzusetzen. Es muss gezielt nach passenden Ausbildungs- und Arbeitsplätzen gesucht werden. Diese Leistung muss neben der didaktisch-methodischen Entwicklung eines Bildungsangebotes erfolgen, sollen Nachhaltigkeit und Chancenmöglichkeit erreicht werden.

Gemeinsam mit dem jungen Menschen könnte ein persönlicher Bildungsplan entworfen werden, der seinen/ihren Vorstellungen und Wünschen aber auch den ihn/ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen und Arbeitschancen entspricht. Dies könnte für die einen beispielsweise bedeuten, einen Hauptschulabschluss zu machen, um eine Ausbildunkstelle zu bekommen, für die nächsten bedeutet dies eine Begleitung und ein pädagogisches Zusatzangebot zur Abendschule, andere benötigen eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle, die sie auch ohne gültige Zertifikate über schulische Leistungen allein aufgrund ihres praktischen Könnens aufnimmt etc. Dazu muss der Straßenkinderpädagoge in Kontakt mit potentiellen Arbeitsgebern treten, mit den Jugendlichen in der Wirtschaft aktiv nach individuellen Lösungswegen suchen. Dieser Aspekt wird bereits in einigen wenigen Ausnahmen deutscher Träger berücksichtigt, wurde im Rahmen der Straßenkinderpädagogik jedoch bis jetzt nicht aufgegriffen.

Die Verfasserin ist der Meinung, dass eine universelle Lösung für alle jungen Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße und geringen Teilhabechancen wegen mangelnder Bildung nicht gefunden werden kann, die Straßenkinderpädagogik keine einheitliche didaktische Antwort darauf geben darf. Dennoch ermöglichen es lebensweltorientierte didaktische und methodische Zugänge unter der Berücksichtigung der individuellen Ressourcen und Fähigkeiten, das Wohlbefinden und die Selbstwirksamkeit der betroffenen jungen Menschen gezielt zu fördern.

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 20.09.2012 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |