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Afrika


Die Bilder zu der folgenden Geschichte wurden von Linda gemalt, einem siebzehnjährigen Jungen. Er lebte bereits als kleines Kind auf der Straße. Aus einem Heim für Straßenkinder östlich von Johannesburg ist er geflohen. Dort war ihm das Leben zu eintönig. Seither sind zwei Jahre vergangen, in denen er wieder auf der Straße lebt und arbeitet.
Vor einigen Wochen fand er - mit anderen Straßenkindern zusammen - in der Wohnung eines Fremden Unterschlupf. Für ihn müssen sie nun Tag für Tag arbeiten gehen. Sie verkaufen Süßigkeiten, Zigaretten und Obst.
Linda hat die Schule abgebrochen. Er ist ein begabter Zeichner und Maler. Wann immer er auf der Straße arbeitet, hat er einen Zeichenblock dabei. Einige Kunden gaben Portraits und andere Bilder bei ihm in Auftrag. Sie haben Linda dafür bezahlt.
Die sieben Zeichnungen der Geschichte sind im April 2010 auf der Straße entstanden. Den Text zur Bildergeschichte hat Maren Basfeld nach Lindas Erzählung zu seinen Zeichnungen verfasst.
Die Geschichte des "Jungen vom Land" gibt nicht Lindas Lebenslauf wieder. Doch sie trifft das Schicksal vieler Straßenkinder sehr genau.
Linda hat einen Platz in einem Zeichenkurs bekommen. Dort erhält er ein Abgangszeugnis. Damit hat er vielleicht die Chance, den Lebensunterhalt mit seiner Kunst zu bestreiten.

Der Junge vom Land. Tod eines Straßenkindes
(gemalt von Linda)

 
Lindiwe lebte auf dem Land, im Norden Südafrikas in der Provinz Limpopo. Der Landstrich, in dem er aufwuchs, wird Venda genannt, weil dort seit Jahrhunderten der Stamm der Venda lebt und sein Vieh weidet. Doch wie überall in Südafrika, ist das Leben auf dem Land sehr hart und eintönig.

Zuhause bei Lindiwe gab es nicht viel, ein paar Kühe und Ziegen, kleine Gemüsebete und Steinhütten mit Wellblechdächern, nichts, was einem jungen Mann Spaß machte und Unterhaltung bot. Manchmal gab es nicht einmal genug zu essen.

Lindiwe hatte es satt, immer nur das Grün der Hügel zu sehen, jeden Tag aufzustehen, die Kühe und Ziegen auf die Weide zu treiben und nachmittags vor Sonnenuntergang wieder auf den Hof zu holen. Er hatte es satt, dass ein Tag wie der andere aussah, dass er, ein junger Mann in den besten Jahren, nichts anderes erlebte als die Geburt neuer Kälber. Sein Leben langweilte ihn.
 
So beschloss Lindiwe eines morgens, seine wenigen Habseligkeiten zu packen und Venda zu verlassen. Zu oft hatte er von jener magischen Stadt gehört, in der das Leben pulsierte, wo Arme innerhalb einer Woche steinreich wurden. Dort gab Zeichnung 1es schöne Frauen, Autos, und immer war etwas los. Niemals wieder müsse er diese Langweile wie auf den Weiden in Venda ertragen. So bestieg er den Metro-Zug, der ihn direkt nach Johannesburg brachte.
 
Nach acht Stunden Fahrt rollte der Zug langsam in die riesige Stadt ein. Lindiwe sah zum ersten Mal das Stadion von Ellis Park, sah den Vodacom-Turm, ein Wohnhaus, in dem mehrere hundert Familien wohnten, und den Hillbrow-Fernsehturm, der von einem großen Fußball umsäumt wird. Die Leute aus Venda hatten nicht übertrieben. Johannesburg war wirklich ein großartiger und faszinierender Ort. Lindiwe konnte es   kaum erwarten, am Park-Bahnhof aus dem Zug zu steigen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
Zeichnung 2Die ersten Stunden in Johannesburg vergingen wie im Flug. Lindiwe lief durch die vollen Straßen und konnte sich nicht satt sehen. All die Farben, die Straßenverkäufer mit ihren Ständen voller Obst, Gemüse, Süßigkeiten, Backwaren, Gürteln und Zigaretten – so etwas hatte er in Venda nicht gesehen.
 
Doch als es dunkel wurde, verspürte Lindiwe Hunger, und müde war er auch. Sein Geld hatte nur für das Zugticket gereicht. Wo sollte er jetzt hin? Da kam ein Junge auf ihn zu, der genau so alt zu sein schien wie er. Er zog einen Wagen voller Altpapier hinter sich her. Er lief mitten auf der Straße, und es störte ihn nicht, dass hinter ihm ein Taxibus laut hupte. Der Junge zog an einer alten Milchtüte und sah sehr freundlich aus. Lindiwe nahm all seinen Mut zusammen und sprach ihn an.
 
 
Zeichnung 3Sobald er den Mund aufmachte, begann der Junge laut zu lachen. Er sagte:
 „Hey, Bruder, du bist zum ersten Mal hier, stimmt‘s?"
 Lindiwe wurde verlegen
 „Ja, aber woher weißt du das?"
 Der Junge lachte noch lauter.
 "Hey, du bist hier in Jozi, da spricht man Zulu oder English, nicht deine Landesprache. So kannst du mit deinen Kühen reden, aber nicht mit uns in der Stadt!"
 Lindiwe merkte, wie er zornig wurde. Was bildete sich dieser freche Junge eigentlich ein, der ihn so beleidigte? Doch da hatte ihn der Junge schon am Arm gepackt und sagte:
 
 
 
 
 „Hey, Junge vom Land, ich bin Ayanda. Du kannst heute Nacht bei mir schlafen, wenn du willst." Zögernd folgte ihm Lindiwe durch die dunklen Gassen.

Ayanda führte ihn durch Gassen, Seitenstraßen und Treppen, bis sie zu einer Mauer kamen. Sie mussten darüber klettern und den Wagen mit dem Papier hinüber heben.
 
 „Das ist mein Tagesverdienst", sagte Ayanda stolz. „Davon kaufe ich mir mein Essen und den Kleber!" Grinsend zeigte er auf die Milchtüte. „Sag Bescheid, wenn dir kalt ist, dann gebe ich dir was".

 Hinter der Mauer konnte Lindiwe im Dunklen einige Deckenhaufen auf Pappkartons erkennen. Ayanda steuerte auf einen dieser Haufen zu und flüsterte:

 „Eh, Thulane, hab ‘nen Neuen mitgebracht, ein Junge vom Land. Rutsch mal zur Seite". So wurde Lindiwe bei den Straßenkindern aufgenommen. Die Nacht war kalt, und Lindiwe fror entsetzlich. Er klapperte laut mit den Zähnen. Ayanda stupste ihn unter der Decke an und sagte:

 „Hier, nimm einen Zug. Halt dir die Tüte an den Mund und zieh den Dampf ein. Gleich wird dir wärmer werden."
Zeichnung 6 So verbrachte Lindiwe die erste Nacht in der großen Stadt.


Die nächsten Tage blieb Lindiwe bei Ayanda, Thulane und den anderen Jungen, die hinter der Mauer schliefen. Manchmal suchte er mit Ayanda nach altem Papier, half beim Autoeinparken oder bettelte. Doch die meiste Zeit streiften sie durch die Straßen, aßen Süßigkeiten oder saßen im Joubert Park am Brunnen. Nach der ersten Nacht schwor sich Lindiwe, Kleber nie wieder anzurühren. Zu schmerzhaft war der Husten danach. Doch bald gewöhnte er sich daran und lernte, wann und wie er schnüffeln musste, um Hunger, Kälte und die Angst vor der Straße zu überwinden. Thulane schnüffelte keinen Kleber mehr. Er sagte, das sei etwas für Einsteiger. Er rauchte viel lieber Dagga, Marihuana. Das sei cooler, auch wenn es mehr Geld koste.

 Die Leute hatten recht behalten. Langweilig war es in Johannesburg nicht. Doch einen gut bezahlten Job fand Lindiwe nicht.

 „Das hat Zeit. Entspann dich, Bruder", sagte Ayanda. „Du wirst deinen Job noch finden. Und Frauen auch. Bald werden sie dir zu Füßen liegen". Alle lachten. In der ersten Woche lachten sie viel über ihn. Zum einen, weil sein Zulu noch nicht fließend war, und zum anderen, weil er seine Reisetasche Zeichnung 8überall hin mitnahm. Er hatte Angst, sie zu verlieren. So nannten ihn bald alle den „Jungen vom Land".

Lindiwe lebte sich gut ein und zog mit der Gruppe durch die Straßen. Eines Tages - sie saßen im Joubert-Park und rauchten ihre Drogen - kam ein älterer Junge auf sie zu und rempelte Lindiwe an. Er fing an zu brüllen, und Lindiwe sah, dass er sehr betrunken war.

 „Entschuldigung", brachte Lindiwe erschrocken hervor. Da zückte der Mann ein Messer. Vor Schreck ließ Lindiwe seine Klebertüte fallen und ergriff einen Stein, der neben ihm in Gras lag. Ayanda kam angerannt und rief dem Betrunkenen zu, er solle Lindiwe in Ruhe lassen. Thulane hatte seinen Joint fallen lassen und verkroch sich hinter einer Mauer. Lindiwe hatte schreckliche Angst.

 „Was stehst du mir im Weg herum?", brüllte der Junge.
 
 
Schneller als Lindiwe reagieren konnte, stach der junge Mann zu. Lindiwe spürte einen stechenden Schmerz in der Seite und taumelte. Benommen viel er zu Boden.
 
 
Er nahm verschwommen wahr, dass der Betrunkene das Messer fallen ließ und in den dunklen Park hinein lief. Thulane kroch aus Zeichnung 8seinem Versteck hervor und rannte hinter ihm her. Lindiwe wurde es schwarz vor Augen, und er fühlte sich todmüde.
 
Da spürte er, wie ihn jemand von hinten unter die Arme griff und ihn aufzurichten versuchte.
 „Nicht sterben, Lindiwe, bitte nicht sterben", murmelte Ayanda mit tränenerstickter Stimme.
 
 Lindiwe sah das Grün der Hügel, auf dem seine Kühe und Ziegen weideten, sah, wie er am Park-Bahnhof stand, um Jozi hinter sich zu lassen und zurück nach Venda zu fahren.

 „Ich komme nach Hause", flüsterte er.

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 25.06.2010 (Prof. Dr. H. Weber)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |