Geschichte und ihre Folgen (Markus Wiencke, 2009)
Am 9. Dezember 1961 erlangte Tansania unter der Kontrolle der Tanganyika African National Union (TANU) seine Unabhängigkeit von Großbritannien. Bis dahin bestand die Kolonie aus mehr als 120 Stammesgemeinschaften,
die mehr oder weniger zentral aufgrund lokaler Sitten regiert wurden. Die von den Kolonialherren eingeführten Gesetze, die den Handel, das Strafrecht und die Zentralisierung der Regierung betrafen, wurden Seite an Seite mit dem - allerdings eingeschränkten - Gewohnheitsrecht der lokalen Gemeinschaften angewendet. Für die lokalen Regierungen und traditionellen Sitten hatte das weit reichende Folgen, denn mit ihrem Grundsatz der indirekten Herrschaft hat die britische Kolonialregierung die Macht der Stammesführer begrenzt. Deren Gerichtsbarkeit im Strafrecht wurde beendet und die Geldökonomie mit ihren Besteuerungen und der Integration in das internationale kapitalistische System eingeführt.
Das unabhängige Tansania hat im Wesentlichen die Grundlagen des Kolonialstaates übernommen. Allerdings wurde die indirekte Regierung, wie sie die britische Kolonialregierung ausgeübt hatte, beendet, und es wurde versucht, alle Gemeinschaften unter den uniformen Gesetzen des Zentralstaates zu modernisieren. In dem Einparteienstaat wurde unter der Führung von Julius Nyerere der ujamaa-Sozialismus eingeführt, der auf kommunaler Produktion und Verteilung basierte.
Zunächst führte die Modernisierungsbewegung zu neuen Perspektiven und löste Hoffnungen auf eine ländliche
Entwicklung aus. Die Modernisierungstheorie verneinte die traditionellen und überlieferten Produktionsmuster als destruktiv und veraltet. Der Staat übernahm die Führung und reduzierte die Rolle der Bewohnerinnen und Bewohner auf relativ passive Teilnehmer. Doch die staatliche Regulation und Kontrolle waren grundlegend ineffizient und unbeweglich, so dass der erhoffte ökonomische Erfolg ausblieb. Parallel wurde die Entwicklung einer nationalen politischen Identität vorangetrieben. Aus den kulturell sehr unterschiedlichen Ethnien sollte eine nationale tansanische Kultur geschaffen
werden. Kisuaheli wurde im gesamten Land die offizielle Sprache. Die meisten jungen Menschen sprechen und verstehen heute aufgrund ihrer Schulbildung Kisuaheli. In der älteren Generation jedoch wird die Amtssprache bedeutend weniger gesprochen. Insofern wurde die tansanische Identität zwar offiziell über jede Form von lokaler „ethnischer" Identität
betont. Doch auch wenn so eine politische nationale Identität entwickelt wurde, blieben kulturelle Differenzen zwischen den ethnischen Gruppen und Regionen weiterhin bestehen. Lokale Sprachen und Identitäten wie die der Sukuma (in der Region Mwanza) oder der Haya sind für das Selbstverständnis wichtig und unterscheiden einen Tansanier vom anderen.
Außerdem gibt es scharfe Trennungen zwischen Land und Stadt sowie zwischen verschiedenen urbanen Regionen.
Die schlechte wirtschaftliche Situation zwang die tansanische Regierung, den Bedingungen internationaler Organisationen wie des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank nachzugeben. Zu diesen Bedingungen gehörten das Structural Adjustment Programme und das Economic Structural Adjustment Programme. Ein weit reichendes Charakteristikum
dieser Programme war die Reduktion staatlicher Einflussnahme im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Begleitet von der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation und einer zunehmenden Abhängigkeit von externer Finanzierung führte das zu einer Rücknahme staatlicher Unterstützung im Bildungs-, Gesundheits- und allgemein sozialen Sektor. Die in den 60er und 70er Jahren eingeführten modernen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen litten darunter massiv. Als Ergebnis ist die Moral der Lehrenden sowohl auf dem Lande als auch in den Städten niedrig. In vielen Schulen fehlen Tische, ausreichende Bücher und technisches Equipment. In den Krankenhäusern mangelt es an Medikamenten und ausgebildetem Personal.
Insofern klingt die Modernisierungskampagne, mit der die Bevölkerung ermutigt wurde, ihre Kinder zur Schule zu schicken und traditionellen Heilern und Geburtshelferinnen den Rücken zu kehren, heute eher hohl. Tansania ist immer noch ein sehr agrarisch geprägtes Land, das stark von Kaffee-, Baumwoll- und Tee-Exporten abhängig ist.
Die Ausbreitung von AIDS wird in den moralischen Diskursen tansanischer Ethnien als charakteristisch für die Geldökonomie gesehen. AIDS ist „zu einer Metapher für die gesellschaftlichen Missstände und zu einem Symbol für die moralische Verkommenheit der Moderne" geworden. In weiten Teilen Tansanias erhielt AIDS in Kisuaheli den Namen hela, was übersetzt Geld bedeutet).
Daneben bringt die westlich orientierte Schulbindung bei den Luo aus emischer Sicht Veränderungen in den familiären Strukturen und traditionellen Wertvorstellungen mit sich. Hier werden „westliche" Normen wie die Gleichberechtigung der Geschlechter und Generationen vermittelt sowie die Idee, dass demjenigen, welcher Wissen oder Geld hat, auch Autorität
zustehe.
(vgl. Markus Wiencke: Strassenkinder in Tansania, Weissensee Verlag, Berlin 2009, S. 19ff.)
|