Gründe für das Leben auf der Straße (Markus Wienke, 2009)
Eine ganze Reihe von Phänomenen, die miteinander verstrickt sind und ineinander greifen, ist für das recht junge tansanische Phänomen „Straßenkinder"
verantwortlich. Eine zentrale Bedeutung haben die Faktoren Armut, AIDS und die
Auflösung der traditionellen Großfamilie, welche auch im globalen Kontext
esehen werden müssen.
Wirtschaft und Armut Die ökonomische Situation und der niedrige Lebensstandard spielen eine entscheidende
Rolle, wenn Kinder ihre Familien verlassen. 16 % aller Tansanier leben unter der
absoluten Armutsgrenze. Das bedeutet, dass sie nicht ausreichend mit
lebensnotwendigen Nahrungsmitteln versorgt werden. Mehr als ein Viertel der Kinder
unter fünf Jahren ist unterernährt. Armut lässt sich als ein Phänomen sehen, in dem
das Globale auf das Lokale trifft. Armut kann Kinder dazu treiben, sich einen
eigenen Verdienst zu suchen. Oder die Eltern schicken sie fort, damit sie sich
selbst um ihren Lebensunterhalt kümmern. Und schließlich leben sie dann auf der Straße
Die Schule hat in den Dörfern keinen hohen Stellenwert. Neben wirtschaftlichen Gründen spielen hier auch traditionelle Denkweisen mit hinein. Schulgebühren
und Schuluniform sind Faktoren, die viele Kinder von der Schule fernhalten.
HIV und AIDS In Tansania betrug die HIV-Rate unter den männlichen Blutspendern 1999 landesweit 8,5 %, in der weiblichen Vergleichsgruppe waren es 11,8 %. Besonders betroffen war bei beiden Geschlechtern die Altersgruppe zwischen 25 und 40 Jahren. Und es gibt bis jetzt noch keine rückläufige Tendenz bei den Neuinfektionen. In einer Studie von 1994 reichte die HIV-Infiziertenrate
dabei in verschiedenen Gebieten von 5,1 % bis zu 25,5 % der Bevölkerung.
In der Region Mwanza orientiert sie sich wahrscheinlich am oberen Limit.
Denn Prostitution ist hier weit verbreitet und wird auch von vielen Bewohnern
des Umlandes genutzt.
In der jüngeren Generation ist das Wissen über HIV, seine Übertragungswege
und Präventivmaßnahmen ausreichend vorhanden. Doch AIDS wird nicht als
Bedrohung für die eigene Person wahrgenommen und der Schutz vor einer
Ansteckung entsprechend ignoriert. HIV-Übertragung durch Prostitution stellt
für die meisten Straßenmädchen ein sehr hohes Risiko dar. Viele Familien wollen
ihre Töchter, die als Straßenmädchen in Mwanza gelebt haben, aus Angst
vor AIDS nicht wieder bei sich wohnen lassen.
AIDS wird als Konsequenz moderner Lebensstile interpretiert und ist insofern eine „Krankheit des Fortschritts". Der African Medical Research and Education
Fund (AMREF) klärt seit einigen Jahren über AIDS und Sexualität auf. Von 1998 bis
2001 lief in 63 Schulen im Umland Mwanzas eine Studie, bei der 120 Lehrende von
AMREF für eine Woche geschult worden sind, um jeweils einmal pro Woche 45 Minuten
Sexualaufklärung in ihren Klassen zu unterrichten. Anschließend wurde die Veränderung
des sexuellen Verhaltens der Schüler gemessen. Die generelle Tendenz sei ein
bewussterer Umgang mit Sexualität. Es würden mehr Kondome benutzt,
ungewollte Schwangerschaften und HIV-Ansteckung seien rückläufig. Die
Schülerinnen und Schüler und auch die Lehrenden seien besser über AIDS
und insbesondere auch den Umgang mit AIDS-Kranken informiert. Ein interessanter
Sekundäreffekt sei auch eine Verhaltensänderung bei einigen Lehrenden.
AMREF-Mitarbeiter berichteten, dass bei anderen Aufklärungskampagnen zu AIDS
zunächst insbesondere die abstrusen Vorstellungen zur Ansteckung hätten überwunden werden müssen wie solche, dass HIV durch Händeschütteln übertragen werde. Oft würden AIDS-Kranke deswegen aus ihren Dörfern ausgestoßen.
Da in Tansania vor allem der produktive Bevölkerungsanteil zwischen 20 und 50 Jahren von AIDS betroffen ist, zieht die Epidemie gravierende ökonomische
Folgen nach sich. Aufgrund des Arbeitskräfteverlustes können landwirtschaftliche Nutzflächen nicht mehr bewirtschaft werden, so dass es in den betroffenen Familien häufig zu Nahrungsmittelknappheit kommt. Dazu kommen die hohen Kosten für Medizin und Krankenbehandlung sowie für das Begräbnis. Insbesondere die Frauen müssen sich um die Pflege der Kranken kümmern und können so die für die Ernährung der Familie notwendigen Arbeiten nicht mehr ausführen.
Im Jahre 2000 gab es ca. 800 000 Waisen in Tansania. Viele von ihnen
mussten aus Kostengründen oder wegen der Versorgung jüngerer Geschwister
den Schulbesuch abbrechen. Oft müssen die Kinder nach dem AIDS-Tod ihrer
Eltern auf der Suche nach einer Verdienstmöglichkeit in die Stadt ziehen.
Auflösung traditioneller sozialer Strukturen In Tansania ist ein zunehmender Verfall der Großfamilien zu beobachten, welche die Kinder, die heute auf der Straße leben, vor einigen Jahrzehnten noch aufgefangen hätten. Die zunehmende Verstaatlichung der Bevölkerung mit ihren vielen Ethnien hat sicherlich dazu beigetragen, traditionelle Werte und Verantwortlichkeiten bei den Großfamilien und Ethnien zu verwischen und durch staatliche Organe zu ersetzen, die dann aber ihrer Rolle nicht gerecht werden konnten.
Die Mehrheit der Straßenkinder kommt vom Lande, nur ein geringer Prozentsatz stammt aus Mwanza selbst. Dabei reicht das Einzugsgebiet von wenigen bis zu mehreren hundert Kilometern. Ein typisches Moment in der Biographie
von Straßenkindern ist die Scheidung der Eltern oder der Tod eines Elternteils
und die erneute Heirat des Verbliebenen, wobei das Stiefelternteil die Kinder
nicht akzeptiert. Wenn ein Elternteil stirbt, ist das andere oft mit der Versorgung
der Kinder überfordert. Die Waisen oder Halbwaisen können dann nicht mehr durch
die Großfamilie aufgefangen werden.
Ein weiteres Problem sind Alkoholismus und die daraus resultierende Vernachlässigung
und Gewalt gegenüber den Kindern. Oder Kinder sind aus anderen Gründen geschlagen
worden. Prügelstrafe ist in Tansania weit verbreitet und gesellschaftlich anerkannt.
Auch wenn in den letzten Jahren durch die Aufklärungsarbeit von
Nichtregierungsorganisationen sicherlich schon viel für die Kinderrechtssituation getan
wurde, ist diese doch immer noch recht bedenklich. Oft sind Mädchen schwanger
und werden deswegen von ihren Eltern davongejagt.
(vgl. Markus Wiencke: Strassenkinder in Tansania, Weissensee Verlag, Berlin 2009, S. 19ff.)
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