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Afrika

Straße
 
Straßenkinder in Burkina Faso
(Katrin Rohde)


Leben auf der Straße

Drogen

Diebstahl

Schule

Familie

Auf dem Land

Kindheit Sexualität

Hygiene


Leben auf der Straße

Es gibt viele Straßenkinder in Burkina Faso, vor allem in Ouagadougou. Woher kommen sie, warum sind sie hier und nicht zu Hause? Welche Drogen nehmen sie, wie überleben sie ihre Krankheiten ohne Geld? Welche Banden gehören zusammen?

Alle diese Jungen leben von Bettelei, Diebstahl und grandiosen Lügen. Was ich damals für Geschichten zu hören bekam! Inzwischen weiß ich meine Zweifel gut anzubringen. Nun falle ich auf fast niemanden mehr herein und bin gewieft im Erkennen von falschen Auskünften. »C’est faut!«, rufe ich sofort, »ka sida«, das ist nicht die Wahrheit, so spreche ich nicht mit dir! Dann wird allseits gegrinst, eine neuerliche Lüge wird ausgedacht, aber ich gehe, konsequent, immerhin lachend. Die Jungs wissen, dass bei mir alles nachgeprüft wird, immer fahre ich mit den Kindern bis in die Dörfer und suche ihre Verwandten. Wenn dann alles stimmt, wenn dieser Junge wirklich sein Leben ändern will, dann finde ich für ihn einen Schlafplatz und bezahle sein Lehrgeld, aber auch das wird ständig überprüft. Die Jungen sind oft notorische Diebe, und die Drogen sind billiger als das Essen.


Drogen

Hier schnupfen sie Kleber, rauchen Ganja, das hiesige Marihuana, und schnüffeln leider – am billigsten von allem – Farbverdünner, was das Hirn innerhalb kürzester Zeit verblöden lässt. Dazu kommen abgelaufene Medikamente, die aus Ghana geschmuggelt und auf den Straßen verkauft werden. Riesige Tüten voller Valium, hier »Bleu-Bleu« genannt, und anderer Beruhigungs- und Aufputschmittel werden auf den Märkten und neben Verkehrsampeln angeboten.

Manche Fetischzauberer hier suchen Herzen oder Hirne von Kindern für ihre Zaubermedizinen, so ist die Straße ein gefährlicher Aufenthaltsort. Etliche Kinder verschwinden einfach, viele sterben an Drogen, einige bei Bandenkämpfen, die mit Messern ausgetragen werden.

Später wurde ich sehr viel härter, wenn es um Drogen ging. Sie sind wirklich der Fluch der Großstadt. Dass viele Kinder an den Drogen sterben, ist nur ein Aspekt. Ich habe ehemalige Jungen von uns später bei uns einbrechen sehen, sie bestahlen und bedrohten ihre eigenen Brüder. Schneiderlehrlinge griffen im Rausch ihre Meister mit der Machete an, einige ließen Erzieher von uns auf dem Heimweg von Freunden überfallen und zusammenschlagen. Die meisten Messerkämpfe werden unter Drogeneinfluss begonnen und enden oft tödlich.

Hinterher tut es dann immer allen sehr Leid, sie können gar nicht verstehen, wie so etwas passieren konnte, und sagen: »Das war ich nicht selbst.« Ja, aber wer war es denn dann?


Diebstahl

Bei Diebstahl reagiert diese arme Gesellschaft wie schon vor 1000 Jahren: Diebe in der Stadt werden erschlagen, und zwar von den Wächtern oder der Bevölkerung selbst. Wer sich außerhalb dieser Gesellschaft bewegt, erfährt nur das Schlechteste, schon immer war es die schlimmste Bestrafung, aus der Familie oder aus dem Dorf ausgestoßen zu werden. Auch in Deutschland gab es das früher, man war »vogelfrei«, rechtlos und geächtet. Hier, wo fast jeder wenig hat, ist das spärliche Eigentum wichtig.

Inzwischen arbeiten wir seit Jahren mit Polizei und Gendarmerie zusammen, um diesen tragischen Morden Einhalt zu gebieten, es gibt Theaterstücke und Filme zur Aufklärung der Bevölkerung, aber es geschieht immer wieder.

Und das Gefängnis, hier M.A.C.O. genannt, entspricht, vorsichtig gesagt, nicht gerade europäischem Standard. Letztes Jahr hatte die Polizei in einer großen Razzia 43 Straßenjungen in die Abteilung für Jugendliche gebracht, als Grund wurde »Vagabondage«, also Landstreicherei, angegeben. Hier muss oft viele Monate auf ein Urteil gewartet werden. Fast ein halbes Jahr lang waren wir, AMPO, und die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« die Einzigen, die sich um diese Kinder kümmerten. 14 von ihnen waren jünger als 13 Jahre, sie lebten unter Straßenräubern und Mördern, das Gefängnis war auf so viele Neue nicht vorbereitet, und es gab nur unzureichend Nahrung und medizinische Versorgung.


Schule

Viele gehen noch täglich mehrere Kilometer weit in ein anderes Dorf zur Schule. Das nehmen nicht viele Kinder auf sich, und außerdem gibt es wenige Eltern, die Geld genug für den Schulbesuch haben. Höchstens ein oder zwei von vielleicht sechs Geschwistern dürfen zur Schule gehen, die anderen werden für die täglichen Arbeiten und auf dem Feld gebraucht.

In burkinischen Schulen wird viel geschlagen, nicht mit der Hand, sondern mit Stöcken, Linealen und Peitschen. Wir haben schon viele Platzwunden an Köpfen nähen müssen oder tagelang Rücken verpflastert. Bei AMPO ist es sämtlichen Erwachsenen und Großen verboten, die Kleinen zu schlagen; damit sind wir eine große Ausnahme hier in Burkina Faso. Tagelang, ja jahrelang habe ich mir in allen Personalversammlungen sagen lassen müssen, dass dies afrikanische Kinder seien und man sie züchtigen müsse. So zeigt sich in der täglichen Praxis, dass Gewaltlosigkeit die bessere Lösung ist. Jeder AMPO-Junge hat einen Bruder, immer gehören ein Großer und ein Kleiner zusammen. Sie helfen sich gegenseitig; wenn einer von ihnen krank ist, schläft der andere bei ihm in der Krankenstation, wenn einer sich streitet, kommt der andere schlichten.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass übernommene Verantwortung das Wichtigste im Leben eines Kindes ist. Jemand, der jahrelang auf der Straße war, wird mit Freuden auf einen kleinen Hund, ein kleines Huhn oder auch einen kleinen Bruder aufpassen. Endlich traut ihm jemand etwas zu, und das muss er nun unter Beweis stellen, vor all den anderen Kindern. Zu Beginn läuft vieles schief, weil Zeiten oder Regeln nicht eingehalten werden, aber wenn man so etwas wie Regeln nie kannte, wie soll es auch gleich klappen?

Hier in Burkina Faso gehen die Kinder zwei Jahre länger zur Grundschule, da sie alle neben der Sprache ihrer Ethnie auch noch Französisch lernen müssen – erst mit 20 Jahren oder später können sie ihr Abitur machen. Das ist zu spät für die Straßenkinder bei AMPO, die alle zur Schule gehen, aber höchstens bis zum Alter von 19 Jahren bei uns bleiben können. Wir bieten nur Grundschulabschluss oder mittlere Reife an, es warten einfach zu viele Kinder auf einen Platz. Ein Handwerk zu lernen ist besser, denn in einem Land mit 83 Prozent Analphabeten ist es vielen nur schwer möglich, an Arbeit zu kommen.


Familie

Familie heißt in Afrika Schutz. Viele Straßenkinder haben diesen Schutz verloren, sei es durch Krankheit, Armut oder Tod der Eltern.


Auf dem Land

Die Landschaft ist eintönig, zerfressen von Hitze und Staub. Große Affenbrotbäume, Mangohaine und Akazien säumen den Weg. Winkende Kinder hüten Ziegen, ab und an kommt uns eine der großen Viehherden aus dem Norden entgegen, die bis nach Abidjan, oft 1000 Kilometer weit, getrieben werden. So eine Herde kann gut 500 Tiere umfassen, alle mit dem Fetthöcker im Nacken, sie werden von den Hirten der Fulbe begleitet, die hier die traditionellen Viehzüchter sind und ihre breiten und spitzen Hüte gegen die Sonne tragen.

Von September bis Juni gibt es nur einen einzigen kleinen Regen – genannt Mangoregen - der die Blüten der Mangobäume öffnet. Wenn diese Tropfen auch noch ausgerechnet zur Stunde des Abendgebetes fallen, werden sie von allen afrikanischen Freunden als ein großes Glückszeichen begrüßt.


Kindheit

Die Kinder hier besitzen praktisch kein Spielzeug. Es gibt alte Reifen, leere Pappschachteln, Bonbonpapier oder Flaschendeckel, damit und untereinander beschäftigen sie sich für Stunden. Allerdings, tanzen können sie schon, bevor sie laufen lernen, im Sitzen wackeln sie im Takt mit dem Kopf, und irgendein Radio läuft immer. Die jungen Menschen müssen sich ihre Zukunft selbst erarbeiten, unter schweren Bedingungen – auf der Straße und auf dem Land.


Sexualität

In diesem Land, in dem Sexualität als Thema ein ausgesprochenes Tabu ist und Frauen aus Respekt bis ins hohe Alter die Augen vor einem Mann niederschlagen, wird die Geburtenregelung mittels Pille oder anderer Hilfsmittel nur sehr langsam bekannt, sie ist auch viel zu teuer für die meisten Frauen. Die alten Männer lehnen das alles natürlich ab. Es wird noch einige Generationen dauern, bis Frauen hier selbst darüber bestimmen können, wie viele Kinder sie haben wollen. Aber auch das wird eines Tages zum Alltag einer Frau gehören, Afrika braucht Zeit, Europa hat viele Jahrzehnte dazu gebraucht. Im Moment ist allerdings wegen Aids und der vielen Geschlechtskrankheiten das Wichtigste der strikte Gebrauch von Präservativen, das Credo Tag und Nacht! Dies betriff an erster Stelle die Straßenkinder, die diesem Risiko täglich ausgesetzt sind.


Hygiene

Zuallererst ist man hier schon einmal sauber! Außer den ganz armen Menschen, die kein Geld für Seife haben, legt jeder größten Wert auf fleckenloses Erscheinen. Nie werde ich es verstehen, wie Afrikaner, die in der winzigsten Hütte wohnen, ohne Licht und Wasser, es schaffen, morgens in weißen Hosen mit Bügelfalte aus ihrer zerlöcherten Blechtür zu treten!

Männer, die täglich in Anzügen und Krawatten zur Arbeit erscheinen, finde ich plötzlich am Wochenende in rosa Gewändern. Frauen, die ich als Suppenköchin kenne, besuchen eine Hochzeit und sehen dabei selbst aus wie die Braut! Schamlos und glücklich wird Reichtum zur Schau gestellt, viel Gold, Ringe, Ketten, alles das und davon viel gehört zum Auftritt.

Den Unterschied zwischen einem Straßenmädchen und einer Königin kann ich als Europäerin kaum erkennen, denn die eigentliche Anmut und die Würde sind hier fast jedem angeboren. Die Bewegungen sind langsam und elegant, man geht nicht eilig, sondern man schreitet und greift stets. Nach einer Weile merkt jeder, dass die Hitze den Tageslauf bestimmt und keinerlei Sinn darin liegt, sich zu beeilen.


aus dem Buch "Mama Tenga - Mein afrikanisches Leben" von Katrin Rohde, erschienen 2002

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 23.09.2011 (s. admin)Online Kompetenz  |  Sitemap  |    |