Kindheit in Tansania (Markus Wienke, 2009)
Bei der osttansanischen Ethnie Luo kann auch ein Vater von nach westlichen Kriterien bereits erwachsenen Kindern immer noch als „Jugendlicher" bezeichnet werden. Hierbei wird ein entscheidender Unterschied zur westlichen Konzeption deutlich: Die Ausdifferenzierung von Kindheit und Erwachsenenwelt ist in Afrika kaum passiert. Es gibt kaum einen eigenen Raum für die Kindheit, der durch die Schulzeit erweitert würde. Kinderzimmer oder Spielplätze sind nur sehr begrenzt vorhanden.
Während die Kleinkinder von den Müttern, auf dem Rücken getragen, zur Arbeit mitgenommen werden, helfen die größeren Kinder bei den alltäglichen Arbeiten – z.B. bei der Feldarbeit oder dem Verkauf von Waren. Nachdem die Kinder in der Regel nach dem zweiten Lebensjahr abgestillt worden sind, beginnt eine geschlechtsspezifische und oft geschlechtsgetrennte Ausbildung. Während die Mädchen durch die weiblichen Bezugspersonen insbesondere in die Hausarbeit eingeführt werden, übernehmen die Männer die Erziehung der Jungen. Die Großfamilie hat, sofern sie noch
intakt ist, ebenfalls Kompetenzen in der Kindererziehung.
Die tansanische Gesellschaft befindet sich im Wandel, ihre Kinder und Jugendlichen sind in ihrer Ontogenese mit biographischer Diskontinuität und kultureller Heterogenität konfrontiert. Die Trennung zwischen städtischem und ländlichem Leben beeinflusst ihr Selbstverständnis und sowohl den Inhalt als auch die Eigenschaften, aus denen
sie ihre Identität konstruieren. Die neuen Wahlmöglichkeiten bringen die Teenager in die schwierige Position, sich mit alten und neuen Werten auseinandersetzen zu müssen. Diese unterscheiden sich sehr stark bzw. sind nicht kompatibel, z.B. in Bezug auf die Wahl der Heiratspartnerinnen und -partner, die Beziehungen zu Eltern und Verwandten, die Zukunftspläne oder eine von zu Hause weit entfernte Arbeit. Insofern sind die Jugendlichen permanent gefordert, sich selbst eine „moderne Identität" im Sinne von Giddens (1991) zu konstruieren: „The modern individual is the master
of her identity, the one who creates herself by continous self-observation and reflexion. We are not what we are, but what we make of ourselves."
Die Familie ist Teil der Dorfgemeinschaft und insofern gezwungen, eine Reihe von akzeptierten überlieferten Werten
in der Kindererziehung weiterzugeben. In einem bestimmten Alter übt auch die Modernisierung Druck auf das Mädchen und seine Familie aus. Das Mädchen muss an dem formalen Bildungssystem teilnehmen, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Mit diesen neuen Fertigkeiten werden soziale und ökonomische Erwartungen an das Kind gerichtet. Das Mädchen selbst hat traditionelle und moderne Bestrebungen, genauso wie seine Eltern und die Gemeinschaft Erwartungen beider Art an es richten.
Die Kirche als andere Form der Modernität hat wiederum ihre eigene Form der Erziehung mit ihren eigenen Werten. So verurteilt sie teilweise traditionelles Wissen und traditionelle Werte als „Teufelswerk", das bekämpft werden muss. Insofern stellen das Wissen, welches das Mädchen in seiner Umgebung erwirbt, die Werte, die es in seiner Familie und Gemeinschaft entwickelt, die Informationen aus seiner religiösen Erziehung, von seinen Altersgenossen und aus den Massenmedien sowie seine eigenen Erfahrungen konfligierende Quellen für die Selbstentwicklung dar. Zudem lassen
sich Mädchen oft auf sexuelle Beziehungen mit Männern ein, welche sich nicht lange binden wollen. Die so riskierten außerehelichen Schwangerschaften bringen die Mädchen oft in eine schwierige soziale und ökonomische Situation.
(Markus Wiencke: Strassenkinder in Tansania, Weissensee Verlag, Berlin 2009, S. 24f.)
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